Drei Merkmale von Karl Jaspers' Denken sind hervorzuheben, ohne die seine Philosophie kaum verständlich ist.
An erster Stelle steht das transzendendierende Vernunftdenken. Dies ist ein Denken über ein Phänomen oder einen Sachverhalt mit der Frage, wie dieses überhaupt möglich sei. Weniger einfach gesagt, ist es, wie bei Kants transzendentaler Deduktion, das Gegenteilige eines ableitenden Denkens, nämlich ein Rück-Denken zu dem, was die Möglichkeit eines Sachverhalts aufweist oder gründet. Kant würde sagen, es sei ein Rückdenken zum Obersatz eines Vernunftschlusses, d.h. eines Syllogismus, der den Schluss begründet. Jaspers spricht vielmehr vom Einigen und Verbinden, und letzthin vom Motiv des Einen. Die Weisen des transzendierenden Vernunftdenkens sind in Jaspers' 3-bändigem ersten Hauptwerk Philosophie, d.h. von Anbeginn seines philosophischen Denkwerks, grundlegend thematisiert.
Das Zweite ist die Thematik der Zeit; man kann sagen, dass Jaspers' Denken von einem radikalen Zeitbewusstsein motiviert ist. Zeit ist zunächst die je eigene begrenzte und begrenzende Zeitlichkeit des Menschen, in der er das Risiko der Wahl auf sich nimmt und die er für dasjenige opfert, was ihm als Wahrheit gilt. Nur so, in der Bewährung des Menschen, tritt Wahrheit aus der zeitlosen Möglichkeit und wird geschichtlich. Wahrsein durch das Menschwerden in der Zeit ist die Thematik all dessen, das in dem, was Jaspers "Existenz" nennt, enthalten ist: das Risiko der Freiheit, Kommunikation als Weg zur Wahrheit des zeitgebundenen Menschen, die Situations-Gebundenheit, so auch die Konfrontation mit Situationen an der Grenze des Menschen-Möglichen, das absolute Bewusstsein, zumal das Phänomen des Glaubens als absoluter Ausgangpunkt des Menschen, der als Zeitlicher nie am absoluten Anfang steht. So ist Zeit auch das Denken über die Gegenwart hinaus, zumal zur Vergangenheit, das bildende Befinden des Menschen in einer geistigen Geschichte, in Tradition, Herkunft, Zugehörigkeit, Erinnerung; und auch in die Zukunft: Erinnerung, Schuldigkeit, Auftrag, Verantwortlichkeit.
Als Drittes ist Jaspers' Umgang mit dem Phänomen des Geistigen zu erwähnen. Das Phänomen des Geistes hat eine Geschichte, die tief in das Vorgeschichtliche reicht. Das alles spielt bei Jaspers eine Rolle, vom biblischen ruach elohim – dem Geist Gottes, und den griechischen Begriffen des nous und der logoi spermatikoi, und dem neutestament-lichen spiritus sanctus, bis zur Hegel'schen Apotheose des Geistes, der sich in der Entäußerung des Weltlich-Zeitlichen, mittels der dialektischen Stadienfolge der Weltgeschichte wieder zu sich findet. Der Bezug auf Hegel ist von Bedeutung. Jaspers stimmt Hegel bei, dass eine Idee, durch die das Geistige zum Ausdruck kommt, immer umfassender ist als jede menschliche Realisierung derselben. Doch distanziert er sich vom Hegel'schen Schema, wonach der Mensch und die Menschengeschichte Instrument und Schauplatz der Realisierung des Geistes sind, wobei jede Stufe überholt wird. Mag der Geist göttlich sein, mag der Weltgeist einem Plan seines Freiwerdens folgen: Jaspers verneint es nicht, er lässt es beiseite. Für Jaspers ist Geist vielmehr eine bedeutsame Weise des Menschseins. Das zeigt sich bei Jaspers' Methodologie des geisteswissenschaftlichen Verstehens, in dem Umgang mit Ideen als die philosophische Sprache dessen, was bei ihm, im Unterschied von der Tradition, als Metaphysik gilt, in seinem Umgang mit dem Modus des Maßstabs, der dem Geistigen eigen ist. Ob in Bezug auf politisches Denken oder zu zeitgenössischen oder historischen Denkern, bei Jaspers bleibt die Frage des Niveaus immer im Blickfeld.
Transzendierende Vernunft, radikales Zeitbewusstsein, geistiger Maßstab, mit diesen Merkmalen nähern wir uns dem Sinn und der Wirksamkeit von Jaspers' Denkwerk.
Bei den Feierlichkeiten zu Jaspers' 100. Geburtstag in Heidelberg und Basel, sowie bei der UNESCO in Paris, meinte Hans Georg Gadamer, dass es bei Jaspers' Philosophie nicht um etwas Neues geht, sondern um eine neue Melodie. Andererseits konnte Hans Saner in seinen exemplarischen Interpretationen von Jaspers' Philosophiegeschichte darauf hinweisen, dass sowohl der sechsfache Zugang zur Geschichte der Philosophie, wie auch gewisse einzelne jener Zugänge, als Nova zu erkennen sind.
Jaspers selbst meinte, Neues in der Philosophie gäbe es bloß einmal in tausend Jahren. Als ich ihn fragte, wo er sich einmal in seinem Schema der großen Philosophen finden könnte, meinte er selbst-ironisch, (unter dem Vorbehalt, dass die Bezeichnung der Größe für ihn selbst nicht zutreffe), dass er ganz unten an die vorletzte Stelle hingehöre, unter die Professoren der Philosophie. (An letzter Stelle sind die Theologen.)
Auch könnte man gewisse Merkmale seiner Philosophie leicht auf Vorgänger zurückführen; doch lohnt es nicht, Beispiele anzuführen.
Geht es aber bei dem Verständnis von Jaspers darum, dass wir Schiedsrichter über seine Originalität sind? Als ich vor vielen Jahren einen Vortrag über Geschichte und Achsenzeit hielt, fragte mich mein Kollege Alan Olson ob diese Idee ursprünglich von Jaspers stammt. Ich konnte berichten, dass ich die merkwürdige zeitliche Aneinanderreihung von dem Buddha, Konfuzius, den jüdischen Propheten schon 13-jährig (1937) kennen lernte, als ich die damals neue Übersetzung von H. G. Wells' Weltgeschichte geschenkt bekam. Auch übernimmt Jaspers bewusst Hegels Begriff "Achse der Weltgeschichte" in Bezug auf jene Aneinanderreihung, die jedoch bei Jaspers eine wesentliche Wende der Denkungsart bezeugt, und darin besteht das Originelle
Wenn wir also Jaspers' Denkwerk in Hinsicht auf Gadamers Bemerkung betrachten, so erweist es sich, dass es unmöglich ist zu unterscheiden, was hier als nicht neue Thematik zu gelten hat, und was als vermeintlich neue Melodie.
Jedenfalls würden wir am Sinn von Jaspers' Denkwerk vorbeigehen, wenn wir in ihm herumklauben und es in Bezug auf spezifische Aspekte und Themata und Begriffe bewerten, anstatt aus der Perspektive der Zusammenhänge.
Bemerkenswert ist eine Fehlinterpretation in der Jaspers-Rezeption, die nach dem 2. Weltkrieg aufkam, als Sartre berühmt und im Zuge dessen Jaspers bekannt wurde, eine Fehldeutung, der immer wieder begegnet werden muss. Um die Mitte der 1980-er Jahre, als ich einen Vortrag über Jaspers hielt, erwies mir der damals schon sehr bejahrte Professor J. N. Findlay die Ehre, meinen Vortrag zu kommentieren. Findlay hatte sich gegen die destruktiven Verirrungen der Analytiker behaupten können und war hoch angesehen. So war ich verblüfft, als er in Bezug auf Philosophie, dem ersten von Jaspers' zwei Hauptwerken, meinte, dass Jaspers damals ein 'Existenzialist' gewesen sei. Wie weist man einen Herrn Findlay zurecht? Das einzige was mir im Moment einfiel war, "Jaspers auf dem linken Ufer der Seine? Lieber Professor Findlay, ich muss gestehen, dass mir dazu nichts einfällt." Jaspers' Existenzphilosophie ist nämlich mit dem Französischen Existentialismus nicht gleichzustellen. Letzterer anerkennt nichts von den Phänomenen, die bei Jaspers' Existenzbegriff wesentlich sind: Die Transzendenzbezogenheit der Existenz in ihrem Freisein, das absolute Bewusstsein, Liebe, Glaube, und das von der Liebe und dem Glauben erfüllte geistige Schaffen.
Auch ist die geläufige Meinung, der frühe Jaspers sei durch den Existenzbegriff gekennzeichnet, der spätere durch den Vernunftbegriff, als ein irreführender Mythos zu erkennen, der durch die Lektüre von Jaspers' Schriften widerlegt ist. Ein Beispiel von Vielen: In Philosophie, unter den ,existentiellen Bezügen zur Transzendenz', finden wir die Gegenüberstellung 'Gesetz des Tages' bzw. 'Leidenschaft zur Nacht'. Man beachte den Wortlaut: Mit dem Gesetz des Tages, d.h., dem Licht der Vernunft, ist die Existenz bei sich; in der Leidenschaft zur Nacht, d.h., dem Dunkel des Waltens der Triebe, des Natürlichen, der unberechenbaren Natur, ist die Existenz ihrer Integrität beraubt.(2)
Ich berichte über eine Begegnung in Basel. Im Jahre 1963, zu Jaspers' 80. Geburtstag, arrangierte Dr. Mayer, der Kulturdezernent des Baseler Radiosenders, im Studio eine sehr schöne und eindrucksvolle Veranstaltung, zu der Festredner aus aller Welt eingeladen waren. Einer der zwei Delegierten der japanischen Jaspers-Gesellschaft war Professor Masao Kusanagi, der die Grüße und Glückwünsche aus Japan überbrachte.
Am nächsten Tag begegneten wir uns im Baseler Kunstmuseum und führten das am Abend zuvor begonnene Gespräch fort. Wir standen im Saal wo die Tafeln des Heilsspiegelaltars von Konrad Witz (ca. 1425) ausgestellt sind, und zwar vor den zwei Tafeln, die die Ecclesia und die Synagoga repräsentieren. Ecclesia ist als Hofdame in dezenter Aufmachung dargestellt; sitzend reicht sie der Synagoga den Kelch mit der Hostie. Mit krasser Gehässigkeit ist die Synagoga mit ihrem gebrochenen Stab dargestellt; das offene und lose Haar, das Ohr voll entblößt, und das lose gelbe Gewand, wirken laut der Emblematik jener Zeit dirnenhaft.
Im Laufe unseres Gesprächs fragte ich Kusanagi, wodurch sich japanische Philosophen von Jaspers besonders angesprochen finden. Er sagte, es sei die Idee desUmgreifenden. Der frappante Kontrast dieser Antwort zu der fatalen Intoleranz, die aus dem Anblick jener zwei Tafeln sprach, gab mir zu denken. Ich fand es wunderbar: Und zwar, nicht bloß, dass hier eine Grundidee eines dezidiert abendländischen Denkers zu Tage kommt – eine Idee, auf die er gekommen war im Nachdenken über die Erfahrung der Tradition, in der er so fest verwurzelt war. Sondern, dass diese Idee Anklang gefunden hat bei einem Denker, der seinerseits fest in einer ganz anderen und nicht weniger profunden Tradition gegründet ist. Es wurde mir klar, dass Jaspers die Denktradition, aus der er selbst erwachsen war, daraufhin interpretierte, dass sie sich als Brücke bewähren kann zwischen vielfältigen Wahrheitsanschauungen, kraft der Einsicht, dass Wahrheit in absoluter Einheit transzendent ist und eben jene Vielfalt gleichsam umgreift, und dass diese Idee unabsehbare Wirksamkeit haben kann.
Denn in der Idee des Seins und der Seinsweisen als 'Umgreifende' ist das, worauf die Entfaltung von Jaspers' Denkwerk hinzielte: der Methodenpluralismus, dann die Preisgabe des objektiven Erkennens an die Wissenschaften; damit hängt zusammen die Bedeutung des Symbolischen als 'Chiffren der Transzendenz'; dann auch die Phänomenologie des Existentell-Zeitlichen als Grundlage für eine post-metaphysische Erneuerung des uralten Fundamentaldenkens. Das Umgreifende ist die Idee, dass, worauf er letzthin im zeitlichen Denkend-Sein ankommt, der Zeit transzendent ist, und das ist in dem sich Menschen unterschiedlicher Fundamentalorientierungen treffen. Mit der Idee des Umgreifenden sind andere Ideen verbunden, die für Jaspers typisch sind.
Zunächst die Idee derWeltphilosophie, die als Idee eben kein 'Projekt', und nicht definierbar ist. Weltphilosophie ist vielmehr die Idee der Aufgeschlossenheit für eine kommende Kommunikation zwischen Weisen des Fundamentaldenkens, die nicht bloß aus westlichen Denktraditionen entspringen. Für Jaspers hängt diese Idee zusammen mit dem Ende der abendländischen Philosophie als Maßstab für Philosophie überhaupt. Das bedeutet nicht, dass Jaspers bereit wäre sich als Weltphilosoph auszugeben. Nein, er ist bewusst und dezidiert ein Mensch des Westens, zumal Deutscher. Schon Paul Ricoeur hatte eine verwandte Idee von Jaspers missverstanden, nämlich die Idee, dass Aussagen über die Transzendenz, zumal über Gott, als Chiffren zu verstehen seien. Ricoeur glaubte, dass Jaspers bereit sei, ein Don Juan zu sein; heute diesen Gott buhlen, morgen jenen.
Die Idee der Chiffren hat insbesondere bei Religionsphilosophen Anstoß erregt. Martin Buber meinte, wo es Chiffren gibt, muss es eine dechiffrierende Instanz geben. Der Theologe Fritz Buri meinte, das Umgreifende zusammen mit der Idee der Chiffrensprache seien für die Theologie ein Trojanisches Pferd. Jaspers hat das Buri gegenüber keinesfalls bestritten. Denn die Frage an den Offenbarungsgläubigen ist: Ist es notwendig für die Gewissheit meines Fundamentalglaubens, dass der andere das Gleiche glaubt? Muss, was für mich als absolut gilt, auch für den Anderen absolute Geltung haben? Oder ist es möglich, aus den Quellen meines Glaubens die Kraft zu schöpfen, wohl nicht den Glauben des Anderen, doch aber die Geltung des Anderen in seinem anderen Glauben anzuerkennen? Ist doch Gott in seiner Absolutheit dem transzendent, was für Menschen in ihrer Zeitlichlichkeit und in der menschlichen Geschichtlichkeit absolute Geltung hat. Jaspers meint, er könne in Anbetracht des nahen Gottes nicht den fernen vergessen, der allein der absolut Eine ist.
In diesem Zusammenhang ist auch die Idee eines allgemeinen Grundwissens zu erwähnen, und verbunden damit, die Idee eines philosophischen Glaubens. Ein Kollege meinte in seinem Beitrag über ein politisches Thema zur internationalen Jaspers-Konferenz in Istanbul (2003): "mehr politische Philosophie und weniger philosophischen Glauben." Man müsste sich wundern: Hat der Referent nicht die Grundsätze der neuen deutschen Verfassung gelesen, auf denen das Grundgesetz aufgebaut ist? Den Satz über die Würde jedes einzelnen Menschen? Was ist das Anderes als 'philosophischer Glaube'? Und wie soll man dem Fundamentalismus unserer Tage begegnen, ohne gewahr zu sein, dass es etwas gibt, das der Mensch Ernst nimmt, und vielleicht auch ohne dass einem selbst etwas als fundamental ernst gilt?
Ein weiteres ist die Idee der Erneuerung der Vernunft, die für Jaspers' Begriff der Achsenzeit ausschlaggebend gewesen ist. Jaspers' Idee der Achsenzeit hat Schule gemacht. Doch, wie Jaspers selbst berichtet, stammt die Idee der Achse der Weltgeschichte von Hegel, der die große Wende der Geschichte im Menschwerden des göttlichen Geistes zu erkennen glaubte. Nun ist das bei Jaspers ganz anders. Der Jaspers'sche Begriff 'Achsenzeit' faszinierte wie kaum ein anderer. Doch die, die sich auf Jaspers berufen, verfehlen was bei seinem Begriff dieser Idee die wesentliche Rolle spielt. Z.B. kam vor kurzem ein Buch über die Achsenzeit heraus, das sich thematisch auf Jaspers bezieht. Die Autorin sieht den Schwerpunkt bei Jaspers darin, dass in den betreffenden Zeiten die Religionen des Buddhismus, des Konfuzianismus, des Judentums entstanden waren, während, abseits von diesen, unter den Griechen das kritisch-logische Denken. Der Autorin geht es um die Religion, und dadurch distanziert sie sich von Jaspers. Denn, erstens hebt Jaspers hervor, dass in jenen Zeiten die Unterscheidung von Religion und philosophisch relevantem Denken schwer vollziehbar ist, und zwar weder bei den aufgeklärten Griechen noch bei den mahnenden Kündern der Juden und den Erleuchtung erfahrenden Jüngern des Buddha.
Was hat es denn wirklich mit der Achsenzeit bei Jaspers auf sich? Es geht um eine radikale Wende des Denkens, eine nicht rückgängig zu machende Wende, die, in Anbetracht der geläufigen Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie, gleichermaßen den Schritt bezeichnet von der bloß anschaulich-verständlichen Denkweise, die sich in der Vielfalt des Verständlichen verliert, zu einer Denkweise, die sich über die Anschaulichkeit und die Vielheit erhebt um sie zu ergründen, um sich in ihr sinnvoll zurecht zu finden. Es ist das Denkmotiv der Vernunft, das sich an der transzendenten Verbindung des Immanenten orientiert, und sowohl im Dualismus des Zoroaster, wie in der platonischen Idee des Guten und dem einen und einzigen fordernden Gott der Juden wirksam ist. Mit dem Einbruch der vernunftgemäßen Distanzierung von dem was anschaulich-verständlich ist, tritt ein Sinn für den nicht-wörtlichen, figürlichen Gebrauch desselben in die Geistesgeschichte ein, sei es als Mythos, oder als Metapher, oder als Symbol. Bei Jaspers selbst wirkt sich das aus indem er einerseits den Wissenschaften den ganzen Bereich des objektiv Erkennbaren konzediert, und andererseits dem Metaphysischen Objektivität abstreitet, es als Symbolik und Mythenhaftes betrachtet, und bestenfalls als existenziell wirksame Chiffer der Transzendenz. So konnte auch Jaspers dem Theologen Rudolf Bultmann entgegenhalten, dass ihm durch sein Programm der selektiven Entmythologisierung die Substanz und der wirksame Sinn des Neuen Testaments verlustig gehen.
Jedenfalls ist es der Einbruch der Vernunft, der nach Einheit trachtenden transzendierenden Vernunft, und nichts Anderes was bei Jaspers unter der Idee der Achsenzeit im Spiele ist. Und nun bietet uns Jaspers diese Idee nicht bloß an um Geschichtsphilosophie zu betreiben, sondern um, im Blick auf jene alte, große Wende des Denkens, zu fragen, ob wir in unserer gegenwärtigen Situation aus ihr etwas heraushören können, das uns anspricht. Es ist dies unsere problematische Situation mit ihren ungeheuren Gefahren, die sich aus dem sich ständig aufballenden technischen Fortschritt und in der Begegnung zwischen Menschen in einer Welt ergibt, die für alle ein für allemal jetzt eine Welt geworden ist, wie Jaspers sagt, zumal zwischen Menschen verschiedener – ja, kollidierender Glaubensüberzeugungen. Haben Freiheit und Frieden in Wahrheit eine Chance? Jaspers meint keine Erneuerung der Achsenzeit, denn jene Situation war nicht die unsere. Meint er eine neue Achsenzeit? Nein. Jaspers war rebellisch, manchmal auch provokativ. Doch er war weder Revolutionär noch Utopist, und seine Nüchternheit konnte manchen jungen Kopf irritieren. Bedächtig, doch nicht zögernd, meint Jaspers eher die Erneuerung der Vernunft, jedoch bewusst im neuen Modus dessen, was bei ihm unter 'Kommunikation' zu verstehen ist. Es ist wohl fraglich, ob und wie weit in der Begegnung von kollidierenden Interessen oder von Offenbarungsgläubigen ein Mit-einander-Reden möglich ist, das gegenseitig offen, ohne Hinterhalt, unbegrenzt, und redlich ist. Jaspers ist sich dessen bewusst, dass die Idee der kommunikativen Vernunft in diplomatischen Beziehungen bestenfalls als Ideal vorschweben kann. Er ist sich auch dessen bewusst, dass die Chance der Politik in unserer Situation, die in der Vernunft im Modus der Kommunikation besteht, an ihrem pragmatischen Abbruch und an der Intoleranz scheitert. Und er weiß, dass man bereit sein muss, sich angesichts militanter Intoleranz zu wehren. Er war einer der ersten, zumindest unter Philosophen, die sich damals angesichts der atomaren Aufrüstung mit der Frage "better red than dead?" auseinandersetzte.
Worum es bei Jaspers in der philosophia perennis, deren Geschäft das Vernunftdenken ist, für unsere Zeit geht, möchte ich in Bezug auf sein Konzept der Philosophiegeschichte veranschaulichen.
Eines der Schemata der Weltgeschichte der Philosophie, die Jaspers teilweise zur Publikation gebracht hat, ist das der 'Grossen Philosophen'. Er konzipierte dieses Schema in Gegenüberstellung zu den üblichen Weisen der Philosophiegeschichte. Obwohl nützlich, verwirft er diese, denn eine Beschreibung der historischen Abfolge von Problemstellungen, der Schulen und der Traditionen, der Denktypen, nimmt keine Rücksicht darauf, dass es menschliche Anliegen, Sorgen und Erfahrungen sind, die das Denken motivieren. Auch ist es nach Jaspers unangebracht, die Person eines Denkers im Sinne des Historismus zu betrachten, d.h. bloß als Repräsentanten seiner Zeit, ohne in Betracht zu ziehen, dass er auch gegen seine Zeit und vielleicht über alle Zeit hinaus gedacht hat. Vielmehr ist das Denkwerk eines jeden Philosophen als einzigartiges Testament einer Möglichkeit der menschlichen Seins-Sicht zu verstehen, besonders das jener Philosophen, denen im Sinne von Jaspers "Größe" zuerkannt werden kann, wobei die letzte Einheit der Wahrheit sich auch dem größten Denker entzieht. Wie Hans Saner berichtete, meinte Jaspers zwar noch am Sterbebett, dass sich die Philosophen nie verstanden haben; doch weiß Jaspers, dass sich der Aufbau des geschichtlichen Denkwerks eines Philosophen im Rahmen eines kritischen Dialogs abspielt, der sich über die Zeiten erstreckt, denn worum es im philosophischen Denken geht, ist selbst ein Umgreifendes, in dem sich jener Dialog abspielt. Denn im Gegensatz zu den Weltreligionen ist für den Philosophierenden die letzte Wahrheit als Autorität, der zu folgen ist, nicht da.
Was es mit dieser neuartigen Weise der Philosophiegeschichte auf sich hat, zeigt sich in der Gruppierung der 'Grossen Philosophen', die Jaspers bietet. Da ist zweierlei zu beachten: Erstens die Merkmale mittels derer die Hauptgruppen, bzw. die betreffenden Untergruppen, voneinander unterschieden werden; zweitens, zuweilen auch deren Reihenfolge.
Beides spielt in der Unterscheidung der drei Hauptgruppen eine Rolle. Diese sind, erstens, die maßgebenden Menschen; zweitens, die großen Denker, d.h., die Philosophen im üblichen Sinn; drittens, Menschen, die in verschiedenen praktischen Bereichen philosophisches Denken zur Geltung bringen. Nach Jaspers also stehen selbst die bedeutendsten unter den Philosophen an zweiter Stelle, nach den maßgebenden Menschen. Was besagt das? Unter den vier maßgebenden Menschen ist wohl Sokrates als Philosoph anzusehen, eventuell auch Konfuzius, kaum aber der Buddha und ganz und gar nicht Jesus. In Jaspers' Schema gelten sie aber nicht als Philosophen, sondern eben als Menschen, die, so Jaspers, durch ihr Wesen und ihre Anwesenheit mehr als andere die Geschichte der Menschheit beeinflusst haben.
Das Vorbild dieser wirklich da gewesenen Menschen, die durch Jahrtausende von Ungezählten hochgehalten und geschätzt wurden, kann, nach Jaspers, also besser als Maß dessen wirken, was der Mensch sein könnte und sein sollte, besser als die höchsten Ideale, die Philosophen ausgedacht haben. Und das zeigt auch, dass die menschliche Wirklichkeit, in der diese Vier maßgebend gelebt haben, das eigentliche Alpha und Omega der Philosophie ist, d. h. der Ausgangspunkt einer philosophischen Reflexion, die nicht nur Gedankenspielerei ist, sondern der Ort an dem erdachte mögliche Wahrheit in menschlicher Bewährung geschichtlich wirklich wird oder sich als Trugbild erweist. Bei Jaspers' Auswahl der maßgebenden Menschen genügt es nicht, dass der Einfluss einer historischen Persönlichkeit dauerhaft und in großem Ausmaß wirksam gewesen ist; vielmehr kommt hier auch die Frage des geistigen Niveaus zur Geltung.
Das Ineinander der Wirklichkeiten des menschlichen Lebens und ernstem philosophischen Denken, das durch die Beziehung zwischen der ersten und zweiten Hauptgruppe ausgedrückt ist, besteht auch in der Beziehung zwischen der zweiten und der dritten Hauptgruppe. Doch hier bedeutet die Reihenfolge keinen Rangunterschied zwischen den beiden. Die Größe eines Shakespeare, Galileo oder Paulus, die in der dritten Hauptgruppe zur Geltung kommen, steht einem Hume oder Lessing oder Origenes nicht hintan, die Jaspers unter die Philosophen zählt.
Es würde zu weit führen, Jaspers' Typologie der großen Philosophen in der zweiten Hauptgruppe in ihrer subtilen Verzweigung zu erörtern, doch ist es notwendig, zumindest darauf hinzuweisen, dass die vierfältige Gruppierung der 'Großen Philosophen' nicht als strenge Unterscheidung zu verstehen ist, da vielleicht jeder Philosoph zum Teil auch im Denktypus der anderen Gruppierungen wirksam gewesen ist. Philosophieren ist schließlich ein Eintreten in das umgreifende Plenum des Denkbaren und die Beteiligung, in seiner je eigenen Zeitlichkeit, an dem Dialog, der sich über die Zeiten hinweg erstreckt. So ist Jaspers' Schema der vier Grundtypen des Philosophierens als integral kreisförmig zu verstehen: von den fortzeugenden Gründern des Philosophierens, zu den vielen Weisen der großartigen metaphysischen Visionen, zu den Typen der Negativen, der Kritiker, Skeptiker, der Aufwühlenden; und schließlich zu denen, die das alles, das pro und das kontra, systemartig zusammenfassen, wie in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Parallel zum Schema der 'Grossen Philosophen', erdenkt Jaspers ein Schema der Weisen des Wahrseins für den Menschen in seiner Zeitlichkeit. In Von der Wahrheit bietet Jaspers unter anderem eine Phänomenologie des Durchbruchs der Wahrheit, wie z. B. beim Prophetentum, bei der Offenbarung, der Revolution. Es liegt nahe, den Kreis der Grundtypen zu schließen im Schritt vom abschließenden System zum Durchbruch einer Neugründung des Philosophierens.
Und hier wagen wir wieder die Frage zu stellen: wohin gehört Jaspers in diesem Schema? Soweit ich die Sache sehe, ist der Denkweg, den Jaspers ging, um sein nie abgeschlossenes und dem Wesen nach nie abschließbares Denkwerk aufzurollen, durchwegs gerade. Ich konnte es begrüßen, als Gerhard Knauss vor einigen Jahren Jaspers' Autobiographie zitierte, wo er meinte, dass die Entfaltung seines Denkens nie ruckweise erfolgte, am wenigsten von einer vermeintlichen Existenz-Phase zur Vernunft-Phase. Vielmehr ist Jaspers' Denken offen, aber integral. Im Schema der großen Philosophen erkannte er unter den Kritikern eine Untergruppe, die mit Sorge der der Moderne spezifischen Probleme gewahr wurden, nämlich die Probleme der Verlorenheit des einzelnen freien Menschen, die die fortschreitende Glaubenslosigkeit und das Schwinden von glaubwürdigen und maßgebenden Autoritäten mit sich führen, zumal das Versagen sowohl der Religionen als auch der Philosophie. Obwohl sich Jaspers gesinnungsmäßig keinem der Vier nahe fühlte, weder Lessing noch Kierkegaard, und gar nicht Pascal oder Nietzsche, wusste er sich von ihrer Sorge angesprochen und motiviert, das Philosophieren der Not der Zeit entsprechend zu gründen – zu gründen, nicht neu zu gründen.
Angesichts der Konfusion der Schulen; angesichts des Chaos der Teilproblematiken ohne Blick auf Verbindung, Kontext, viel weniger auf Einheit; angesichts des Versagens vor den aktuellen Fragen der Zeit; angesichts der Verirrung in den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – glaube ich, dass Jaspers es als die Aufgabe des Philosophierens erkannte, die uralte Frage nach der Wahrheit des Seins fundamental zu erneuern. In diesem Sinne könnt man Jaspers als einen "Gründer des Philosophierens" betrachten, obwohl er seine Philosophie für nichts weiter als ein persönliches Zeugnis ansah. Ob sein Denkwerk "fortzeugend" ist, lässt sich erst nach Generationen beurteilen. Aus der Perspektive der aktuellen Situation lässt sich sagen, dass ein Fortzeugen eines Philosophierens wie das seine der Menschheit Not tut.
Und all das, was dem Denkenden aus der Tradition und Bildung zu Gute kommt, bleibt bloße Möglichkeit. Was zählt ist, nach Jaspers, Bewährung in der Zeit, und das bedeutet letzten Endes die Gegenwart, was Franz Rosenzweig so trefflich die "zeitlichste Zeit" nannte.
In den Jahren 1949/50 brachte Jaspers, auf Einladung von Dr. Meier, eine wöchentliche Radio-Serie "Einführung in die Philosophie" für eine allgemeine Hörerschaft. Er endete seinen letzten Vortrag mit dem Aufruf, dass ein Augenblick alles sein kann, dass wir das Sein versäumen, falls wir ihn nicht ergreifen, denn worauf es für unser zeitliches Dasein ankommt, ist die Gegenwärtigkeit.
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