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Volume 18, No 1, Spring 2023                  ISSN 1932-1066

Albrecht Kiels philosophische Anthropologie im Anschluss an Karl Jaspers

Csaba Olay

Eötvös Loránd University, Budapest, Hungary

olaycsaba@gmail.com

Kurzfassung: In dieser Kritik der zwei Bände von Albrecht Kiel, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung, stelle ich fest, dass es sich um ein ambitioniertes Projekt handelt, welches die umfangreiche Thematik der philosophischen Anthropologie à la Karl Jaspers nur skizzenhaft zu analysieren in der Lage ist. Die Ausarbeitung eines geschichtsphilosophischen Bildes vom Menschen erfordert eine gründliche systematische und begriffsgeschichtliche Klärung die, in meiner Einschätzung über den Rahmen der philosophischen Anthropologie von Jaspers hinausreicht.

Schlüsselwörter: Scheler, Max; Aufklärung; Achsenzeit; Weltgeschichte; historische Mentalitätsschichten; Vernunft; philosophische Logik.

Abstract: In this critique of Albrecht Kiel's two volumes, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung, I note that it is an ambitious project that succeeds in analyzing the extensive topic of philosophical anthropology à la Karl Jaspers merely in a sketchy manner. The elaboration of a historical-philosophical picture of man requires a thorough systematic and conceptual-historical clarification which, in my estimation, goes beyond the scope of Jaspers' philosophical anthropology.

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Das themen- und gehaltsreiche Buch von Albrecht Kiel erweckt gemischte Eindrücke.1 Es setzt sich eine gewaltige Aufgabe auf gut fünfhundert Seiten, nämlich unter dem Titel Aufklärung vier Dimensionen oder Haupthinsichten zu klären, die dem Autor zufolge die Gesamtgeschichte der Menschheit maßgeblich bestimmen. Der Anspruch ist unbescheiden, jedoch die Ausführung oft elementar, was im Zeitalter der Spezialisierung und des spezialisierten Wissens manchmal zweifelhaft wirkt. Das Buch ist ferner sehr heterogen. Eine Theorie der Vernunft und einer vierphasigen Aufklärung, Gesamtüberblicke über lange geschichtliche Perioden, evolutionstheoretische Überlegungen auf verschiedensten Ebenen, politische Philosophie, Sicherheitstheorie und kritische Betrachtung von Ideologien tauchen in einer sonderbaren Mischung auf. Eigentümlich ist auch die Struktur des zweibändigen Textes vor allem deswegen, weil ein klarer Leitfaden der vielseitigen Überlegungen nicht deutlich wird.

Ein solcher, vom Buch angebotener thematischer Reichtum lässt sich auf ein paar Seiten kaum zusammenfassen. Statt ein derart großangelegtes Projekt mit Blick auf die Details ausführlich zu besprechen, sollen hier die Grundzüge der programmatischen Absicht dargestellt und mit Bemerkungen versehen werden. Nach der allgemeinen Einschätzung des Zweckes des Werkes werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige ausgewählten Themenkomplexe berührt, die unvermeidlich auch die Präferenzen des Rezensenten widerspiegeln.

Die Absicht des Buches ist es, eine differenzierte Anthropologie auszuarbeiten, die auch historisch rückblickend auf die Menschheitsgeschichte maßgebliche Aspekte zur Geltung bringt. Dieses Projekt wird von einem geschichtsphilosophischen Optimismus gespiesen, der nach den realgeschichtlichen Erfahrungen des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahnhunderts eher selten anzutreffen ist. Das Vorhaben bezieht seine Motivation von Karl Jaspers, und zwar nicht vom Philosophen der Existenz, sondern vom Einheitsdenker. Für Kiel ist die Jasperssche Idee einer philosophischen Logik im Anschluss an Immanuel Kant und G. W. F. Hegel bestimmend. Unter dieser Voraussetzung wurde dann die Aufgabe, die Jaspers vorschwebte, bejahend von Kiel übernommen. Er führt aus:

diese bis zum äußersten gehenden Spaltungen des Menschenbildes im 19. Jahrhundert im Kontext zu sehen, damit die abstrakt zutreffende Definition des Orientierungswissens durch Kant konkret auszufüllen und so ein vernünftiges Selbstbewusstsein des Zeitalters wiederzugewinnen—als eine neue Mentalitätsschicht gegenüber dem vorherrschenden wissenschaftlichen Positivismus und den daraus hervorgegangenen Ideologien Marxismus, Marktliberalismus, Sozialdarwinismus und Psychoanalyse. [VOA1 10]

Es ist fraglich, worauf die Erwartung sich gründet, dass diese sehr divergierenden Strömungen sich allem Anschein zum Trotz doch synthetisieren lassen.

Dabei soll angemerkt werden, dass der Ausdruck "Mentalität" in philosophischen Kontexten programmatisch kaum vorkommt. Wie auch andere Grundbegriffe des Buches—etwa Aufklärung oder Orientierung—wird Mentalität und Mentalitätsschicht eher intuitiv verstanden. Das Buch geht oft ohne eine Untersuchung oder zumindest eine Beleuchtung des Sprachgebrauchs vor, die in diesem Fall hätte zeigen können, dass "Mentalität" ein Ausdruck der Geschichtsschreibung ist und vor allem in der Annales-Schule französischer Provenienz vorkommt. Ob das philosophisch auf eine einheitliche Auffassung der Gegenwart oder zum Zwecke einer Geschichtsphilosophie à la Jaspers angemessen ist, wäre noch zu ergründen.

Die Absicht des Buches ist im Untertitel als eine differenzierte philosophische Anthropologie beschrieben. Obwohl Kiel zu Recht bemerkt, dass die Anthropologen "die Qual der Wahl zwischen den verschiedensten Forschungsgebieten" haben (VOA1 19), nämlich

der rein physisch-biologischen Anthropologie, der experimentellen Psychologie, der "höheren Tiefenpsychologie" und dem weiten Feld der wertenden Kulturanthropologie (VOA1 19),

widmet er keine besondere Behandlung den hier auftauchenden Problemen. Begrifflich wird nicht geklärt, worin eine "differenzierte Anthropologie" bestehen soll. Philosophische Anthropologie trifft seit ihrer Formulierung um die Jahrhundertwende auf die Schwierigkeit, wie sie sich zu den Fachwissenschaften verhalten soll. Im Gegensatz zu früheren Phasen des Nachdenkens über den Menschen (etwa in der Neuzeit) sind am Anfang des 20. Jahrhunderts bereits spezialisierte Humanbiologie, Medizin, und Evolutionstheorie als Wissensformen über den Menschen vorhanden. Diesbezüglich bemerkt Max Scheler, dass

zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart.2

Bei der Bestimmung der philosophischen Anthropologie handelte es sich im Wesentlichen um zwei Versionen der Ausarbeitung des philosophischen Bildes vom Menschen: entweder als eine reaktive Disziplin, die die Ergebnisse der Einzelwissenschaften ohne ihre Begründung aufarbeitet oder als reflexive Disziplin, die die Rede vom Menschen aufgrund der Eigenerfahrung begründen will, wie etwa Ernst Cassirers Konzept des Menschen als animal symbolicum. Es ist höchst unverhältnismäßig, kein Wort über die verschiedenen Bestimmungsmöglichkeiten philosophischer Anthropologie zu verlieren und gleichzeitig fast dreißig Seiten der "Tabuisierung von Rassenunterschieden...als das Gegenteil von Aufklärung" zu widmen (VOA1 38).

Man erfährt über den anderen zentralen Titelbegriff, also über Aufklärung im Grunde genommen nicht wesentlich mehr. Da der Zusammenhang von Vernunft und Aufklärung als grundsätzlich strittig angesehen werden muss, ist das Ausbleiben einer gründlich systematischen und begriffsgeschichtlichen Klärung ein schwerwiegendes Desiderat des Buches. Die Aufgabe einer umfassenden Aufklärung wird ohne Bereitstellung von Hintergründen mit der Aufgabestellung eingeführt, die besagt, dass alle "historischen Mentalitätsschichten vor und nach Kant, von der Magie des Frühmenschen bis zu den Ideologien der Neuzeit" erfasst werden sollen (VOA1 4). Wie und warum der diffuse Begriff von Mentalitätsschichten die Aufklärung tragen soll und warum Magie und Positivismus als im Wesentlichen gleichartig behandelt werden können und sollen, wird nicht eigens untersucht. Ein solch umfassender Begriff der Aufklärung findet sich im Übrigen in der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno, in der die Autoren die Aufklärung mit instrumenteller, herrschaftsförmiger Vernunft gleichsetzen. Obwohl Kiels Text Kants berühmtes Diktum über die Aufklärung zitiert, wird die Hauptschwierigkeit des eigenständigen Denkens nicht geklärt, nämlich wie bemerke ich es, wenn sich mein Denken auf unbewusst internalisierte Quellen stützt? Mit Blick auf den Begriff und die Rolle der Vernunft lässt sich auf ähnliche Weise sagen, dass sie im Buch von Kiel deutlich unterbestimmt bleiben, genauso wie auch das Verhältnis von basaler und höherer Vernunft unscharf bleibt. Der Begriff der Vernunft wird dadurch nicht klarer, dass Kiel drei Grundaspekte der Aufklärung in der "Orientierung, Erinnerung und Steuerung" sieht, und diese sogar als "Grundvoraussetzungen aller lebenden Systeme" bezeichnet (VOA1 6).

Kiel hält Orientierungswissen für die "Hauptaufgabe der Philosophie," aber das ist viel weniger selbstverständlich und unproblematisch, als es zunächst den Anschein hat. Ich persönlich habe große Sympathien für ein solches Verständnis der Philosophie, aber das kann man nicht einfach auf der philosophischen Logik von Jaspers aufbauen. Im Zeitalter der weit vorangeschrittenen und unser Leben durch die Technik tief bestimmenden Einzelwissenschaften soll diese Frage ernsthaft gestellt und behandelt werden. Dies geschieht nicht in Kiels Arbeit.

Zwei weitere Problemkomplexe sollten noch kurz berührt werden: einerseits die Frage der Geschichte, andererseits die globale Lage der internationalen Beziehungen. Wenn der Begriff der Aufklärung ins Zentrum gestellt wird, dann lässt sich eine Thematisierung der Moderne nicht vermeiden. Dass dies im Buch nicht geschieht, ist sicherlich zum Teil auf dessen Anlehnung an den Ansatz von Jaspers zurückzuführen: Jaspers' Denken über die Moderne vollzieht sich im Kontext seiner Geschichtsauffassung, das heisst vor dem Hintergrund seiner These der Achsenzeit. Die These besagt bekanntlich, dass die Achsenzeit nicht überschätzbare Folgen für die Struktur der Weltgeschichte hat. Was vordem geschah, konnte nur dann bestehen, wenn es in die Achsenzeit aufgenommen wurde. Jaspers betont:

Von dem, was damals geschah, was damals geschaffen und gedacht wurde, lebt die Menschheit bis heute.3

Daraus leitet Jaspers einen normativen Sinn der Geschichte ab, der dadurch hegelianisch geprägt ist, dass selektiv bestimmt wird, was zur eigentlichen Geschichte gehört. Im Gegensatz zu Hegel aber, ist die Einheit der so umgrenzten Geschichte nicht die eines zielgerichteten Ablaufs, sondern die Einheit eines von seinen inhaltlichen Ursprüngen bestimmten Geschehens. Das wissenschaftlich-technische Zeitalter bedeutet Jaspers zufolge nicht nur eine Gefahr, sondern ihm kommt in seiner Konstruktion der Weltgeschichte eine grundsätzliche Rolle zu. Es ist nämlich der Einheitsgesichtspunkt, der die Geschichte Weltgeschichte werden lässt. Jaspers hält die Gesamtheit der früheren Geschichte für ein zusammenhangloses Nebeneinander von Ereignissen:

Es gab bisher noch keine Weltgeschichte, sondern nur ein Aggregat von Lokalgeschichten. Was wir Geschichte nennen, und was im bisherigen Sinne nun zu Ende ist, das war der Zwischenaugenblick von fünftausend Jahren zwischen der durch vorgeschichtliche Jahrhunderttausende sich erstreckenden Besiedlung des Erdballs und dem heutigen Beginn der eigentlichen Weltgeschichte. [UZG 45]

Mit Blick auf die Frage von Friedensordnungen geht es Kiel "nur um die historischen Beispiele für regionale Friedensordnungen und -bündnisse" (VOA2 31), wobei er militärische Konflikte folgendermassen in Frage stellt:

Sind sie überflüssig, weil es nur um Fantasieprodukte von Mythen und Ideologien geht, oder sind sie unvermeidlich, um nachhaltig schädliche Dysfunktionen in Funktionen zu verwandeln? [VOA2 31]

Der zweite Zweig der Alternative ist eine hegelianisierende Denkweise, die das Böse als Lernmöglichkeit zu begreifen sucht. Ob ein solcher Ansatz wirklich geeignet ist, eine tiefere Analyse der internationalen Beziehungen und der globalen und regionalen Konflikte zu geben, scheint fraglich zu sein.

Schließlich soll bemerkt werden, dass Kiel sich vor provokativen Feststellungen nicht scheut, die sich sachlich bereits auf den ersten Blick nicht halten lassen und zur Argumentation eigentlich nicht viel beitragen. Man kann dies am folgenden Satz veranschaulichen in welchem Kiel eine Prophezeiung von Friedrich Nietzsche erweitert:

Dieses Zeitalter des Nihilismus werde bis zum Ende des 21. Jahrhunderts dauern. Dafür sprechen nicht nur die Erbsündenlehre und das Zölibat...sondern heute auch die gemeinsame Strategie von UNO und Vatikan, die Masseneinwanderung aus den von der Bevölkerungsexplosion betroffenen Elendsgebieten nach Europa (als einzigem Kontinent, der sich dafür öffnet) zu fördern. [VOA1 225]

An diesem Satz kann man Verschwörungstheorie (UNO und Vatikan als verbündete Agenten), Zukunftsvorhersage, und maßloses Überbewerten der katholischen Keuschheitsauffassung in einem sehen. Natürlich beweist ein einziger Satz nicht, dass ein Buch als Ganzes nicht überzeugend ist, diese Art der Auslegung ist aber, wie ich meine, für viele Stellen der Ausführung charakteristisch.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Werk Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung I-II ein themenreiches und ehrgeiziges Projekt formuliert, aber an vielen Stellen parolenhaft bleibt und zur ernsten Analyse nicht kommt. Der großangelegte Anspruch ist begrüssenswert, dessen Ausführung lässt jedoch viel zu wünschen übrig.

1 Albrecht Kiel, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung. Band I: Eine differenzierte Anthropologie nach den Menschenbildern der kulturellen Mentalitätsschichten; Band II: Friedensordnungen als Lebensformen, Berlin, DE: LIT Verlag 2022, S. 254-5. [Im Folgenden ausgewiesen als VOA1 oder 2]

2 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, München, DE: Nymphenburger Verlagshandlung 1947, S. 10.

3 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München, DE: Piper Verlag 1963, S. 26. [Im Folgenden ausgewiesen als UZG]