Volume 18, No 1, Spring 2023 ISSN 1932-1066
Wirklichkeit als Grundkategorie von Karl Jaspers' Philosophie
Tsuyoshi Nakayama
Toyo University, Tokyo, Japan
tnkym@nifty.com
Kurzfassung: In diesem Beitrag möchte ich anhand der Werke von Karl Jaspers den Begriff "Wirklichkeit" als die Grundkategorie von Jaspers' Philosophie interpretieren und dessen Relevanz erwägen. Zunächst sind drei Stufen der Wirklichkeit zu unterscheiden, nämlich die empirische Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Existenz, und die Wirklichkeit der Transzendenz. Ferner weise ich auf die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit entsprechend den Weisen des Umgreifenden hin. Abschließend gehe ich darauf ein, dass es verschiedene Erfahrungsebenen der Wirklichkeit gibt.
Schlüsselwörter: Eigentliche Wirklichkeit; empirische Wirklichkeit; Wirklichkeit der Existenz; Wirklichkeit der Transzendenz; Chiffre-Erlebnis; Mehrdimensionalität der Wirklichkeit; Erfahrungsebenen.
Abstract: In this essay, I would like to use the works of Karl Jaspers to interpret the term Wirklichkeit (reality) as the basic category of Jaspers' philosophy and consider its relevance. I depart by distinguishing three levels of reality, namely empirical reality, the reality of existence, and the reality of transcendence. Furthermore, I point out the multidimensionality of reality, corresponding to the encompassing. Finally, I discuss the different levels of experience of reality.
Zu Beginn seiner Schrift Existenzphilosophie sieht Jaspers "die eine Zeitlang fast vergessene Aufgabe der Philosophie" als die folgende an:
die Wirklichkeit im Ursprung zu erblicken und sie durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe,—im inneren Handeln—zu ergreifen. Das Philosophieren wollte...aus allen Vordergründen zurückfinden zur Wirklichkeit.
Mit anderen Worten gesagt, muss man gemäß Jaspers aus der bloßen Realität zur eigentlichen Wirklichkeit zurückkehren und diese Rückkehr zur Wirklichkeit ist die endgültige und eigentliche Aufgabe seines gesamten Philosophierens. Deswegen schreibt Jaspers:
Die Endfrage des Philosophierens bleibt die nach der Wirklichkeit selbst. [EP 55]
Auch im Nachlaß zur Philosophischen Logik, der nach Jaspers' Tode veröffentlicht wurde, äußert sich Jaspers auf 116 Seiten zum Thema Kategorien der Wirklichkeit. Aus diesen Gründen sehe ich Jaspers' Begriff der Wirklichkeit als eine der Grundkategorien seiner Philosophie an. So stellt sich nun die Frage, was ist die Wirklichkeit in Jaspers' Philosophie?
Zuerst muss bedacht werden, dass es verschiedene Darstellungsformen der Wirklichkeit gibt. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von Weisen der Wirklichkeit (NPL 90-1). An diesem Punkt möchte ich auf den Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit, also zwischen der empirischen Wirklichkeit und der eigentlichen Wirklichkeit, eingehen. Jaspers hebt die empirische Wirklichkeit hervor, die er mit der Realität gleichsetzt und betont, dass die empirische Wirklichkeit (also die Realität), zeitlich sowie räumlich ist und "zwingend allgemein erkennbar" ist (NPL 91). Im Gegensatz zu dieser empirischen Wirklichkeit postuliert Jaspers das Sein als Wirklichkeit. Er schreibt darüber:
"Sein als Wirklichkeit" ist von Zeitbedingungen unabhängig, durch sich selbst seiend, als Wirklichkeit nicht allgemeingültig zwingend, sondern nur geschichtlich erfahrbar. Gedacht ist es abstrakt und zeitlos, erfahren konkret und ewig. [NPL 91]
Wenn Jaspers zwischen der empirischen und der eigentlichen Wirklichkeit unterscheidet, beruft er sich auf die Tatsache, dass Menschen gewöhnlich die jeweils vorhandene, erkennbare, konkrete Realität für wirklich halten. Aber gemäß Jaspers ist diese empirische Wirklichkeit nur ein oberflächlicher Aspekt der Wirklichkeit. Die empirische Wirklichkeit als bloße Realität ist noch nicht die eigentliche Wirklichkeit. Die ursprüngliche Frage muss nun genauer gestellt werden. Es muss nämlich gefragt werden, was die eigentliche Wirklichkeit ist.
Für Jaspers bedeutet die eigentliche Wirklichkeit einerseits die existentielle Wirklichkeit, und andererseits die damit verbundene transzendente Wirklichkeit. Er unterscheidet empirische Wirklichkeit deutlich von existentieller und transzendenter Wirklichkeit. Die existentielle und transzendente Wirklichkeit ist, gemäss Jaspers' Formulierung, im Gegensatz zur empirischen Wirklichkeit
für den gegenständlichen Verstand nicht da. Sie ist nicht untersuchbar, ist kein bestimmbares Objekt...[Sie wird] echt nur dort erfahren wo sie zugleich ursprünglich, einmalig, nicht identisch überlieferbar erfahren wird. [NPL 156]
Es ist wichtig zu betonen, dass in Jaspers die eigentliche Wirklichkeit, anders als die empirische Wirklichkeit, nicht objektivierbar ist, sondern nur in geschichtlicher, einmaliger Gegenwart unbedingt gewiss wird. Es stellt sich die Frage, wie nun der Unterschied zwischen existentieller und transzendenter Wirklichkeit zu verstehen ist.
Im dritten Band seines dreibändigen Werks Philosophie weist Jaspers auf drei Stufen der Wirklichkeit hin: (1) empirische Wirklichkeit, (2) Wirklichkeit der Existenz, und (3) Wirklichkeit der Transzendenz (P3 7-10). Die empirische Wirklichkeit als die erste Stufe ist die objektive Wirklichkeit, die als Gegenstand des Erkennens zwingend wissbar und daher für jedermann identisch und allgemeingültig ist. Dagegen ist die Wirklichkeit der Existenz, das heisst, existentielle Wirklichkeit, als die zweite Stufe an der Grenze solcher empirischen Wirklichkeit, sozusagen die eigene eigentliche Wirklichkeit meines Selbstseins, die mir in Grenzsituationen und in existentieller Kommunikation als die einmalige und unvertretbare gegenwärtig wird. Sie kann nie objektiv gewusst, sondern nur existentiell erfahren werden, wo ich eigentlich ich selbst bin. Im Nachlaß zur Philosophischen Logik betont Jaspers in diesem Zusammenhang vor allem das Moment der Kommunikation (NPL 162-3). Nach Jaspers ist in der eigentlichen Kommunikation der Existenzen eine bezüglich aller empirischen Wirklichkeit heterogene, existentielle Wirklichkeit gegenwärtig.
Aber diese Wirklichkeit der Existenz als die eigene eigentliche Wirklichkeit unterscheidet Jaspers von der Wirklichkeit der Transzendenz, das heisst, von der transzendenten Wirklichkeit, als der dritten Stufe, welche die eigentliche Wirklichkeit schlechthin ist. Jaspers bezeichnet diese im dritten Band seiner Philosophie als absolute Wirklichkeit (P3 8-11), die transzendent und schlechthin unzugänglich ist. Es fragt sich nun, was Transzendenz bei Jaspers ist und wie sie für Menschen gegenwärtig wird. Jaspers bezeichnet Transzendenz abwechslungsweise als Sein, eigentliche Wirklichkeit, Gottheit, Gott, und noch mit weiteren Bezeichungen. In welcher Beziehung steht Transzendenz zur eigentlichen Wirklichkeit? In Von der Wahrheit schreibt Jaspers:
Sofern wir mit der Transzendenz leben, ist sie eigentliche Wirklichkeit.
Man könnte dies so interpretieren, dass der Mensch nach Jaspers in der Welt insofern mittels der Führung durch die Transzendenz als eigentliche Wirklichkeit leben kann, als er in seiner existentiellen Freiheit mit seiner inneren Notwendigkeit identisch wird, wobei er in der konkreten Situation mit Gewissheit sagen kann, "hier stehe ich, ich kann nicht anders." Deshalb könnte man sagen, dass Transzendenz gerade für die Existenz als die eigentliche Wirklichkeit geschichtlich, das heisst, im konkreten und einmaligen Augenblick gegenwärtig wird.
Jaspers beschreibt die Erfahrung der Transzendenz als überwältigende Wirklichkeit in vierfacher Gestalt (NPL 166): Erstens, Transzendenz in mystischer Ekstase die "auf spezifische Weise inkommunikabel" ist (NPL 166). Zweitens offenbart sich die Erfahrung der Transzendenz angesichts der Grenzsituationen (NPL 166). Drittens wurde die Wirklichkeit der Transzendenz von den antiken Propheten erfahren, die direkt das Wort Gottes hörten (NPL 166-7). Viertens, die Erfahrung eines Postulats der Wirklichkeit der Transzendenz die keiner Begründung bedarf (NPL 167). Die erste und dritte Erfahrung der Transzendenz bleibt fast allen Menschen außer Mystikern und Propheten verschlossen. Im Gegensatz dazu ist die zweite existentielle Erfahrung der Transzendenz angesichts der Grenzsituationen das Wichtigste. Nach Jaspers kann für Menschen konfrontiert mit Grenzsituationen, zum Beispiel derjenigen des Todes als existentieller Krise die unbedingte Seinsgewissheit der Existenz, die tief in der Transzendenz verwurzelt ist, offenbar werden, wenn im einmaligen, entscheidenden Augenblick existentielles Müssen als innere Notwendigkeit erfahren wird. Ich denke, dass in dieser existentiellen Erfahrung das existentielle Chiffre-Erlebnis eine wichtige Rolle spielt. Für Jaspers ist die Chiffre die Sprache der Transzendenz, welche die Menschen im entscheidenden Augenblick in der Welt anspricht. Sie erfahren in ihr die eigentliche
Wirklichkeit in konkreter geschichtlicher Situation in geschichtlich einmaliger, nicht zu verallgemeinernder Gestalt. [NPL 165]
Diese Chiffre ist nur vernehmbar "dem dafür Bereiten und von ihr Ergriffenen" (NPL 165). Demnach wird gerade in diesem Erlebnis des existentiellen Ergriffenseins durch die Chiffre in geschichtlicher, einmaliger Situation die Wirklichkeit der Transzendenz als die eigentliche Wirklichkeit gegenwärtig.
In Jaspers' dreibändigen Werk Philosophie werden diese Stufen der Wirklichkeit aufgezählt und dementsprechend können sie auch im Nachlaß deutlich ersehen werden. Im Gegensatz dazu werden in Von der Wahrheit, entsprechend den Weisen des Umgreifenden, noch mehrere Weisen der Wirklichkeit erwähnt. In diesem Werk wird auch die Wirklichkeit des Daseins als die umgreifende Wirklichkeit dargelegt (VW 54). Diese umgreifende Wirklichkeit des Daseins der man unmittelbar inne werden kann, unterscheidet sich deutlich von der empirischen Wirklichkeit, die objektiv erkennbar ist. Auch im Nachlaß zur Philosophischen Logik erwähnt Jaspers "die umgreifende Wirklichkeit des Daseins"(NPL 93), indem er eklärt:
Das Ganze der empirischen Wirklichkeit ist die Welt. Überall ist Wirklichkeit der dunkle Hintergrund, auf dem jeweils bestimmten, gewußten oder erfahrenen Wirklichkeiten sich abzeichnen. Es steht immer an der Grenze ein Undurchdringliches. Jedes Wirkliche läßt uns an einen Abgrund treten, dessen Tiefe wir nicht ausloten können...Dasein bedeutet uns das Umgreifende des lebendigen In-der-Welt-Seins. [NPL 91]
Zum Thema "Geist" schreibt Jaspers in Von der Wahrheit, "Der Geist ist umgreifende Wirklichkeit" (VW 71). Auch im Nachlaß zur Philosophischen Logik wird Geist als Wirklichkeit angesehen. Jaspers schreibt diesbezüglich:
Frage ich mich, ob ich des Geistes gewiß sei nur als eines Wertes, eines Geltens und Sollens, eines Sinnes, so erkenne ich sogleich, daß zwar dieses alles in ihm ist,—aber ich bin mir eines mehr, eines Wirklichen bewußt, wenn ich Geist erfahre. [NPL 154-5]
Nach meiner Interpretation ist die Idee vom Geist nicht in einem realen Sinn zu verstehen, sondern im ideellen Sinne.
Was "Bewusstsein überhaupt" betrifft, erwähnt es Jaspers zwar in Von der Wahrheit, wenn er von der Wirklichkeit des Denkens spricht (VW 69), aber zugleich stellt er auch fest, dass das Bewusstsein überhaupt "selber keine eigentliche Wirklichkeit" ist (VW 75).
Von diesem Standpunkt aus gesehen, kann die empirische Wirklichkeit, die in Jaspers' Philosophie als die erste Stufe erwähnt wird, gerade als die Objektivierung solcher umgreifenden Wirklichkeit des Weltseins, des Daseins, und des Geistes durch Bewusstsein überhaupt ausgelegt werden. Jaspers schreibt:
Die empirische Wirklichkeit wird herausgearbeitet im Umgreifenden des Bewußtseins überhaupt als die Objektivität aller Weisen des Umgreifenden; vor allem des Weltseins, und dann aller anderen Weisen des Umgreifenden. [NPL 153]
In diesem Sinne kann man sagen, dass jede empirische Wirklichkeit, das heisst, jede Realität schon vom Bewusstsein überhaupt konstruiert ist und darum nur als Erscheinung angesehen wird. Auf diese Art konnten die in Von der Wahrheit dargestellten immanenten Weisen der Wirklichkeit, je nach der Weisen des Umgreifenden, noch ausführlicher ausgeführt werden als in seiner Philosophie.
Abschliessend möchte ich feststellen, dass, erstens, die Wirklichkeit nicht einerlei ist, sondern es verschiedene Weisen oder Stufen der Wirklichkeit gibt und, zweitens, jede Weise oder Stufe nicht jederzeit für jedermann auf der gleichen Erfahrungsebene zugänglich ist. Welche Art von Wirklichkeit ich ergreife, hängt davon ab, welche Art Mensch ich selbst bin. Eine der wichtigen Bedeutungen der Periechontologie von Jaspers ist es, auf solche Mehrdimensionalität der Wirklichkeit hinzuweisen, um dadurch letztendlich gleichsam den Ort zu erhellen, wo man der eigentlichen Wirklichkeit als Transzendenz ansichtig wird. So fragt der Mensch: Wo und für wen ist überhaupt die Transzendenz wirklich? Die Antwort lautet: Für mich als Bewusstsein überhaupt ist die empirische Wirklichkeit (also die Realität) die einzige Wirklichkeit, und die Wirklichkeit der Transzendenz ist lediglich eine Illusion. Jedoch für mich als Existenz wird im Gegenteil die Wirklichkeit der Transzendenz im geschichtlichen Augenblick als die eigentliche Wirklichkeit gegenwärtig.
Zu Beginn dieses Beitrags habe ich die vielen Bedeutungen der Wirklichkeit in Jaspers' Philosophie verdeutlicht. Aber wenn Jaspers über eine Rückkehr zur Wirklichkeit spricht, handelt es sich hauptsächlich um die Wirklichkeit der Transzendenz als die eigentliche Wirklichkeit, die nur durch die existentielle Wirklichkeit gegenwärtig wird. Jedenfalls kann der Begriff "Wirklichkeit" wohl als Grundkategorie von Jaspers' Philosophie interpretiert werden. Dabei soll nicht vergessen werden, dass die Frage nach der Wirklichkeit bei Jaspers kein bloßes theoretisches und logisches Thema ist, sondern die ernsthafteste Aufgabe des existentiellen Suchens.