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Volume 18, No 1, Spring 2023                  ISSN 1932-1066

Orientierungswissen und Ideologien als Arbeitsgebiete der Aufklärung

Zu Karl Jaspers' Neuanfang und dessen Probleme

Endre Kiss

Eötvös Loránd University Budapest, Hungary

dr.endre.kiss@gmail.com

Kurzfassung: In seinem zweibändigen Werk, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung, setzt sich Albrecht Kiel überzeugend mit dem nahezu unlösbaren Problem einer durchgehenden Systematisierung des ganzen philosophischen Werkes von Karl Jaspers auseinander. Im Begriff der Orientierung vereinen sich Wissenschaft und Theorie (Philosophie) des weltanschaulichen Denkens der Philosophie von Jaspers. Einerseits führt Orientierung in eine beliebige Richtung, andererseits gibt es von Anfang an ein Wertesystem, das orientierend führt. Positionen und Ziele sind also scheinbar identisch, jedoch durch die Dynamik der Orientierung kommen beide Perspektiven stets auf andere Weise zum Ausdruck.

Schlüsselwörter: Scheler, Max; Wissen; Verschuldung der Philosophie; Aufklärung; Orientierungswissen; Wissensintegration; Wissensformen.

Abstract: In his two-volume work, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung, Albrecht Kiel convincingly engages with the almost unsolvable problem of a pervasive systematization of Karl Jaspers' entire philosophical work. The concept of orientation unites the science and theory (philosophy) of the worldview thought in Jaspers' philosophy. On the one hand, orientation leads in any direction, on the other hand, there is from the outset a value system underpinning it that provides orientation. Positions and objectives are therefore seemingly identical, yet through the dynamics of orientation mean that both perspectives are always expressed in different ways.

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Der philosophische Kampf für die Aufwertung des Wissens

Die Philosophie von Jaspers vereint die theoretischen und die historischen Momente der Philosophiegeschichte auf eine besondere Weise. Zur gleichen Zeit ermöglicht sie es auf eine bis dahin unbekannte Weise, dass die stets neuen Ergebnisse und Einsichten der einzelnen Wissensgebiete in eine neue Synthese aufgenommen werden. Jaspers' Vorgangsweise, sowie das Ganze seiner Philosophie, aber auch seine philosophischen Resultate stehen in der Geschichte der Philosophie ohne Präzedenzfall da.

So viele—und sei es noch so unlösbare—Probleme eine durchgehende Systematisierung des ganzen philosophischen Werkes von Jaspers bereiten würde (mit welcher sich Albrecht Kiel kraftvoll auseinandersetzt), übertrifft diese Philosophie jedoch alle anderen darin, wie sie Wissen, Wissenschaften, Erkenntnis auf dem "sicheren Gang einer Wissenschaft"1 in einer philosophischen Form organisch integrieren kann. So entsteht ein Werk, in dem, wie Jaspers es bereits durch den Titel seines Werkes deutlich macht, die "grossen Philosophen" der Tradition auch aufgehoben werden können. Es ist eine vollkommen unerwartete Chance für die Philosophie des 20. und des 21. Jahrhunderts; eine Chance, mit der niemand wirklich gerechnet hat. Sowohl der Satz von den extremen Schwierigkeiten der ganzheitlichen Systematisierung wie auch jener der einmaligen Verdienste der Integration des methodisch errungenen Wissens sind deshalb bezüglich Jaspers' Philosophie wahr. Jaspers geht den Gefahren der mangelnden Systematisierung aus dem Wege so, dass er die einzelnen Philosophien und Problemgebiete auf einem Niveau ausarbeiten kann, die im Leser dann kaum das Bedürfnis für eine noch ausgedehntere Systematisierung wachrufen wird. Anders formuliert, er entschuldigt sich wegen der Mängel der Systematisierung nicht, anstatt dessen liefert er perfekte konkrete Konzepte, die ein unbedingtes Bedürfnis nach weiteren Systematisierungen nicht mehr zwangsweise erwecken.

Kiels Konzeption geht von diesen Grundbeständen aus. Mit und ohne Jaspers plädiert er für die qualifizierte Aufwertung des Wissens. Darin setzt er Jaspers geradlinig fort, denn dieser Ansatz sensibilisiert den Leser für ein Gefühl, das jeden Tag schmerzlich erlebt wird: Die Differenzierung der Wissenschaften und der pluralen Philosophie dienen gleicherweise dazu, dass die Einzelnen wie auch die Gesellschaft, und zugleich auch die einzelnen sozialen Institutionen qualifiziertes Wissen oft gleichsam spontan ignorieren. Sie tun es sogar mit dem stolzen Hinweis auf die zunehmende Differenzierung des Wissens. Die zeitgenössischen Menschen leben nun in einer Gesellschaft von nicht wahrgenommenen Wissensbergen und diskutieren Inhalte, als ob man über sie auch ohne die Miteinbeziehung dieser Unmengen an Wissen eigentlich noch diskutieren dürfte. Wissen wird somit das einzige Gut, dass diese Gesellschaft nicht konsumiert und auch nicht konsumieren will.

Kiel schliesst sich jener Auffassung der Synthetisierung und der Systematisierung an, die auch Jaspers vertreten hat (ansonsten ist seine Ausführung dieser Thematik in vielen Aspekten selbständig). Theorie und Wissenschaft müssen nicht mehr in einer systematisierten Totalität vereinbar sein. Was somit möglich wird, sind konkrete Werke, die im Medium ihres Gegenstandes die Einheit von Theorie (Philosophie) und positivem Wissen repräsentieren und dadurch selbst wiederum zu Beispielen weiterer solcher Synthesen werden können.

Wenn bei Jaspers eine traditionelle Systematisierung des Wissens auch nicht vorstellbar ist, so verfügt er trotzdem über die Möglichkeit, gewisse gemeinsame Prinzipien in den einzelnen Werken zur Geltung zu bringen. Es scheint, dass seine 1932 verfasste philosophische Kulturkritik es war, in der diese gemeinsamen Prinzipien mit ausreichender Vorsicht auf den Plan treten, wobei es sich von selbst versteht, dass die Gegenwart dieser gemeinsamen Prinzipien in dieser Grundsituation, der nicht vollzuziehenden Synthesen, entscheidend ist.2 Das indirekte Verfahren dieses Werkes ist nicht nur bemerkenswert, es weist auch auf die Notwendigkeit der Artikulation von gemeinsamen Prinzipien hin. Schon an dieser Stelle soll gesagt werden, dass der bei Kiel so zentrale Begriff der Orientierung auch mit dieser Formulierung von gemeinsamen Prinzipien verbunden ist.

Schon 1932 übt Jaspers eine gemeinsame Kritik (daher auch die natürliche Entstehung von gemeinsamen Prinzipien) an den damals führenden neuen Wissensformen. Die ausgewählten neuen Wissensformen (Marxismus, Psychoanalyse, Anthropologie) sind nicht nur die neuesten Richtungen der dreissiger Jahre, sie gehen auch darin einig, dass sie eine Überlappung von Wissenschaft und Theorie (Philosophie) darstellen. Sie gelten also, schon von Anfang an, als Orientierung im Sinne von Jaspers' grosser Intention. An dieser getrennten, aber gleichartig ausgerichteten indirekten Kritik an diesen drei Gebieten lassen sich schon die Umrisse einer neuen philosophischen Typologie ablesen. Die Orientierungsfunktion (dazu folgt mehr später) der philosophischen Wissenschaften wird um den Preis einer Befreiung von der engeren erkenntnistheoretischen Begründung erkauft. Wie Jaspers hierbei sein Absehen von der Erkenntnistheorie handhabt, ist auch eigentümlich. Er greift unter anderen die Erkenntnistheorie, beziehungsweise ihre Konzeption keineswegs an, wie dies der späte Georg Lukács in seiner Ontologie tut, man muss sich zusätzlich selbstverständlich vergegenwärtigen, dass dieser späte Lukács in vielerlei Hinsicht in einer ähnlichen Situation ist, wie es damals Jaspers war.

Jaspers geht von jener Einsicht aus, dass in der Turbulenz der Wissenschaften im 19. und im 20. Jahrhundert ausgelöst durch die Begegnung der Philosophie mit den Wissenschaften eine permanente Konfrontation mit der engsten Erkenntnistheorie nicht unbedingt unvermeidlich ist. Die Orientierung des Denkens wird so von der Erkenntnistheorie befreit, Jaspers sorgt jedoch dafür, dass in jedem Detail seines Orientierungsdenkens die Grundprinzipien einer hohen Wissenschaftlichkeit und die mehrfachen existentiellen Gesichtspunkte lebendig zur Geltung kamen. Dadurch entsteht eine merkwürdige Kompensation—die Leerstelle die durch die Abwesenheit der Erkenntnistheorie entstanden ist, wird durch eine mustergültige Sorgfalt hinsichtlich wissenschaftlicher Methodologie wettgemacht.

Wie Kiel es in vielen Facetten konsequent ausarbeitet, verbindet das Moment der Orientierung in der Welt als die Manifestierung der Seinsgebundenheit, die strenge Wissenschaft (und Theorie) mit Weltanschauung und Existenz. So gehen Wissen und Orientation Schritt für Schritt ineinander über, und zwar vor einem sehr breiten Horizont.

Von der spezifischen Verschuldung der Philosophie zum Orientierungswissen

Die aus der Aufklärungsproblematik herauswachsenden, aus dem Positivismus, Evolutionismus, sowie den Naturwissenschaften herausmutierenden ideologischen Vorstellungen hatten Jaspers stark beschäftigt. Vereinfachend, aber eindeutig gesagt, es ging es hier stets um die Übergänge zwischen strenger Wissenschaftlichkeit und Ideologie. Dieses Grenzgebiet ist bis heute weniger erforscht als es notwendig gewesen wäre, vor allem deshalb, weil man vom Ideologischen eher literarische oder rein weltanschauliche Vorstellungen hätte haben sollen, sah man in ihm deshalb tatsächlich eine nicht näher bestimmte ideelle Hervorbringung, und zeigte gerade erstaunlich wenig Sensibilität für den Übergang von der strengeren Wissenschaftlichkeit zur ideologischen Sphäre.

Jaspers war—in qualifizierter Weise—einer der allerersten, der diese Problematik wirklich exakt formulierte. Wie er es auch selber hervorhebt, galten ihm die Ansätze der Soziologie, Psychologie, und Anthropologie als "hoffnungsloser Ersatz der Philosophie" (GSZ 150), aus welchen, wie aus einem "Umschlag," die Philosophie entspringt, "welche als gegenwärtige Existenzphilosophie heißt" (GSZ 150). In Kiels Formulieung geht es darum, die "Aufspaltungen wieder in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen."3 Kiels grossangelegte Monografie-Reihe knüpft sich an dieser Stelle am intensivsten an Jaspers' Denken an. Sie thematisiert vor allem auch die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Orientierungswissen (verstanden als Weltanschauung oder Ideologie).

Diese Situation soll hier durch die Kategorie der Verschuldung charakterisiert werden. Sie ist vor allem eine ökonomische Kategorie, die "Staatsverschuldung" eine Kategorie der Makroökonomie. Ähnlich wie die theoretische und praktische Ökonomie die konkreten Lasten der Staatsverschuldung ewig vor sich hinschiebt, so ist es auch mit der Philosophie der Fall. Die Philosophie ist ebenfalls stets schuldig aufgrund der steten Neuinterpretation der einzelnen philosophischen Systeme, inklusive der unendlichen Kette der Diskussionen unter ihnen. Jaspers war hier auch einer der ersten, dem diese Grundbefindlichkeit der Philosophie bewusst wurde und diese Schuldigkeit durch seine gemeinsame Betrachtung der universalen Konzepte, durch eine gemeinsame Reflexion der Philosophie und der Weltreligionen oder auch noch durch eine gemeinsame Analyse von Philosophie, Weltanschauungen, und Wissenschaft abzuarbeiten suchte. Seine klare Einsicht in den Tatbestand, den ich als "Verschulden der Philosophie" beschreibe, dürfte von der Tatsache herrühren, dass seine akademische Sozialisierung ursprünglich in der Psychologie war und ihm jener philosophische Konsens deshalb nicht bekannt gewesen sein dürfte, dass man sich in der Regel mit diesem Verschulden praktisch abfindet und so tut, wie als ob diese nicht existieren würde und jeder neue Philosoph seinen Weg von diesem Verschulden unabhängig beginnen könnte.

Das alles bestimmende Faktum dieses Verschuldens bezieht sich aber auch auf die Weltanschauungen (Ideologien und die Produkte des Orientierungsdenkens). Orientierungsphilosophien sind noch viel produktiver als Philosophien, ihre Veränderungen sind kaum mit wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen. Sie sind aber nicht nur viel zahlreicher, sondern sie sind auch viel praktischer ausgerichtet als normale Philosophien; sie wirken auf Politik, Kultur, und soziale Prozesse.

Kiels Ansatz, der auf Jaspers zurückgeht, betrachtet diese Prozesse im Rahmen der Evolution der Mentalitätsschichten, in dem er diese fast schon enzyklopädische Vielfalt in einem einheitlichen aufklärerischen Konzept aufzuheben sucht. Es fällt auf, dass selbst noch über die bekanntesten Ideologien lange unabschliessbare Diskussionen geführt werden. Was die einzelnen Versionen der Orientierungsphilosophien anbelangt, so ist die Gesellschaft immer noch unaufgeklärt. Kiel gibt reichlich Beispiele dafür, wie Orientierungswissen in die Gebiete der Scheinwissenschaften, der Manipulation, des falschen Bewusstseins, der psychologischen Verführung, der Esoterik, oder auch noch des Satanismus eindringen.

Typologisch kann man die Manifestationen des Orientierungswissens mit den Weltanschauungsphilosophien identisch setzen. Auch sie haben philosophischen Charakter, auch sie können auch wahr und falsch sein, auch sie sind keinen strengen epistemologischen Forderungen unterworfen. Es sagt sehr viel aus, dass in der Typologie die Existenzialphilosophien die dritte Gruppe ausmachen. Ich beziehe mich hier auf eine typologische Skizze, in welcher szientische (wissenschaftliche), weltanschauliche (ideologische) und existentiale Grundtypen angeführt werden.4 Gerade dadurch, dass Jaspers auch zu den wenigen Existentialphilosophen gehört, gewinnt seine integrative Sichtweise im Rahmen der Philosophien erhöht Bedeutung, denn er sieht diesen Tatbestand weder von der reinen philosophischen noch von der reinen weltanschaulichen Seite. Sein eigener spezifischer Existentialismus liefert ihm eine spezifische ergänzende Blickrichtung.

Im Begriff der Orientierung vereinen sich beide relevante Richtungen des weltanschaulichen Denkens. Einerseits führt Orientierung in eine beliebige Richtung, andererseits gibt es von Anfang an ein Wertesystem, das orientierend führt. Positionen und Ziele sind also scheinbar identisch, jedoch durch die Dynamik der Orientierung kommen beide Perspektiven stets auf andere Weise zum Ausdruck.

Bei Kiel entfaltet sich ein grosses historisches Tableau mit vier grossen Kapiteln der Aufklärung. Diese Kapitel sind nicht so sehr historische Zusammenfassungen mit eigenen Wertakzenten, sie sind eher eine kritische Geschichte des Orientierungsdenkens überhaupt. Dies liegt zweifellos im Geiste von Jaspers, es ist aber schon auch stark von Kiels eigenen enzyklopädischen Urteilen geprägt. Kiel verwirklicht hier etwas, was viele andere Intellektuelle auch denken und wissen, nur nicht ansprechen und deshalb auch nicht verwirklichen. Man kann heutzutage auf eine durchaus problematische und gefahrvolle Geschichte der Orientierungsphilosophien zurückblicken. Wir schieben diese stark problematische Geschichte in dieser Verschuldung vor uns hin nach vorne und können überhaupt nicht garantieren, dass manche Züge dieser falschen und negativen Orientierungen nicht noch einmal vor unseren Augen wieder lebendig werden. Auch diese bewusste und konsequente Einstellung erhebt Kiels Monografie zu einem bedeutenden Produkt unserer Zeit. Denn was er hier verwirklicht, ist eine breit verstandene Wissenssoziologie, ohne viel auf Max Scheler oder Karl Mannheim eingegangen zu sein (von Plato zu Friedrich Nietzsche führt er jedoch noch viele weitere fundamentale Gestalten vor Augen). Kiels Werk ist, was den Denkstil anlangt, im Schatten von Jaspers, der in der Psychologie der Weltanschauungen tatsächlich eine Wissenspsychologie auf die Beine stellt. Kiel verfügt über ein enzykoplädisches Wissen: er weiss, dass es nie eine lineare Stufenfolge der Mentalitätsschichten gibt, sowie dass stets Unvereinbares vereint wird und Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen entsteht (und auch das Umgekehrte ist zutreffend). Tatsächlich liegen die psychologische und die soziologische Ausgangsperspektive stets parallel nebeneinander. Wie Jaspers sagt, Orientierungsdenken ist kein Irrgarten von Täuschungen, man muss nach dessen seelischer Wirklichkeit fragen. Wir haben es bei Kiel mit einer neuen Enzyklopädie zu tun, die kritisch, historisch-wissenschaftlich, wissenssoziologisch, und zu all dem auch noch historisch arbeitet, denn sie kennt den Weg der Geschichte und kann die einzelnen Umsetzungen des Orientierungswissens klar beurteilen. In ihrem Ansatz will sie sich der Herausforderung des stets wachsenden Verschuldens stellen und eine gleichzeitige Gültigkeit und eine gültige Gleichzeitigkeit der Orientierungsphilosophien herstellen. Die Stärke des Konzeptes ist die ebenfalls auf Jaspers zurückgehende genaue Untersuchung der Grenzgebiete und Berührungen zwischen strengen Wissenschaften und Orientierungskonzepten. Diesbezüglich ist Kiels Werk auch extensiv sehr reichhaltig, Kiel kann seine wissenschaftliche Universalgelehrtheit klar vorweisen. Der Ton seiner Kritik an falschen Ideologisierungen kann daher umso stärker sein. Hier zeigt sich, dass auch Immanuel Kants Auffassung hinsichtlich der philosophischen Orientierung in dieses Konzept aufgenommen werden kann. Durch das Moment, dass die notwendige philosophische Orientation bei Kant ausserhalb der möglichen Erfahrung liegt, schliesst sich der Kantische Begriff der Orientierung an den wissenssoziologischen Begriff des Orientierungswissens an.

Die stark unterstrichene Trennung der universalen Philosophie von den Einzelwissenschaften ist eines der führenden Probleme der retrospektiven Interpretation der Orientierungsphilosophien. Diese bekannte Tatsache hat zwei vollkommen unterschiedliche Konsequenzen, die man kaum in eine einzige Theorie aufheben kann (und bisher auch nicht wollte). Durch diese Trennung entsteht nämlich eine wahre Chinesische Mauer zwischen Philosophie und Einzelforschungen, die Konstitutionsregeln der einen schliessen diejenigen der anderen aus (und umgekehrt). Andererseits schneidet diese methodologische Trennung den produktiven und selbstverständlichen Übergang von der Forschung zu der Philosophie durch, was keineswegs ein Ziel gewesen sein dürfte. Die Sensibilitaet dieser Grenze ist eine der Ursachen der vielen missglückten Orientierungskonzepte. Eine zweite Ursache der missglückten Konzepte ist die unvorstellbare Vitalität der ideologischen Bedürfnisse. Ideologie ist praktisch orientiert, sie nimmt alles auf, was sie braucht, ohne viel darüber nachzudenken, ob sie es sich aneignen darf oder nicht. In dieser Vitalität wird dann weitgehend entscheidend, dass die Wissenschaft die höchste Plausibilität unter den intellektuellen Erzeugnissen hat und Ideologie braucht Plausibilität, man glaubt der Wissenschaft einfach stärker als anderen Objektivationen. Die dritte Ursache ist das grösste Verschulden, welches wahrscheinlich nicht mehr geregelt werden kann. Sie ist ein negatives Phänomen, ein schwarzes Loch. Es geht dabei um die nicht-geschriebene positivistische Grosstheorie aus den Jahren 1880-1890 in Europa. Da es keine solche universale Theorie des Positivismus gibt, wird man in jedem Fall, bei jeder Wissenschaft, bei jeder ideologischen Instrumentalisierung von wissenschaftlichen Entdeckungen mit dieser Möglichkeit der falschen Instrumentalisierung stets aufs Neue konfrontiert.

In Kiels historischer Enzyklopädie des oft fehlgegangenen Orientierungswissens ist und bleibt die Gegenwart stets ein relevanter Bezugspunkt. Kiel formuliert die gegenwärtige Lage in expliziter Weise so:

Seit dem glücklichen Ende des Kalten Krieges gibt es kaum noch eindeutig benennbare Mentalitätsschichten, welche die Weltkonflikte bestimmen. [VOA 339]

Ich bin mit dieser Aussage einverstanden (es lag nicht in Kiels Kompetenzbereich, die Weltkonflikte nach dem Februar 2022 zu reflektieren). Dennoch möchte ich auf eine dramatische Verschiebung der sozialen Einbettung des Orientierungswissens hinweisen. Diese Verschiebung setzte sich nach 1989 stufenweise durch. In der neuen Realität existiert zwar der Hauptstrom der Orientierungsphilosophien nach wie vor weiter. Von zwei unterschiedlichen Seiten her wird ihre aktuelle Reproduktion aber eingeengt, wenn gar nicht unmöglich gemacht. Der eine Endpunkt sind die Totalitarismen (die alten, die sich erneuernden, und die möglichen neuen Totalitarismen). Ihre Geltung vereitelt die natürliche Reproduktion der Orientierungsphilosophien, sie lösen sie einfach ab. Der andere Endpunkt wird von dem postmodernen Differenzdenken genährt. Das postmodere Differenzdenken macht die Reproduktion der Orientierungswissens von einer anderen Seite aus unmöglich.

Jaspers und Kiel machen also einen besonderen dialektischen Sprung; die Verantwortung für die Philosophie wertet das Orientierungswissen auf. Man will die Erkenntnistheorie nicht rückwirkend demolieren, man muss also über den Wahrheitsgehalt des Orientierungswissens wachen. Das ist wiederum ein Punkt, an dem Jaspers und Kiel der Sichtweise der Wissenssoziologie sehr nahekommen. Mit der Sprache der Wissenssoziologie selbst könnte man es so ausdrücken, dass in dieser Behandlung des Orientierungswissens die wirklichen Bedürfnisse der wirklichen Gesellschaft kritisch artikuliert werden.

Dies ergibt sich bei Jaspers, wie einmal schon erwähnt wurde, nicht so sehr angeregt von der Wissenssoziologie von Scheler und Mannheim, sondern ist eher ein Resultat seines Studiums von Platon und Nietzsche, ergänzt mit zahlreichen Ergebnissen seiner Psychologie der Weltanschauungen. Verstärkt man die Impulse bei der Entstehung des Orientierungswissens, so kommt man zu einem merkwürdig umgekehrten Kritizismus, beziehungsweise zu einer merkwürdig umgekehrten Aufklärung. Nicht der Kritizismus führt hier zum Orientierungswissen und zur Aufklärung, sondern das Orientierungswissen und die Aufklärung beleuchten die einzelnen Philosophien kritisch–kritizistisch. Kiel folgt Jaspers auch darin, dass er die Evolution der Mentalitätsgeschichte beleuchtet, stellenweise geht er dabei auch über Jaspers hinaus. Selbst die Umrisse von neuen Systematisierungen zeichnen sich ab, die auch Jaspers schon mehrfach vorbereitet hat. Nicht zufällig entsteht der Eindruck einer Mischung einer positivistischen Enzyklopädie und des Hegelschen Systems.

Das bei Kiel vorgezeichnete Wissen wirft freilich auch zahlreiche neue Probleme auf. So ein Problem ist etwa die Doppelbedeutung des Orientierungsbegriffs. Die eine Bedeutung ist, dass man den Leser im Laufe einer Orientierung in eine bestimmte Richtung führt. Die zweite Bedeutung besteht darin, dass ich mich selbst orientiere, wenn ich einen konkreten geistigen Mittelpunkt für mich auswählen kann. Je weiter das Universum des Orientierungswissens ist, desto grössere Bedeutung können auch die Unterschiede der beiden Orientierungen erlangen. Hierbei muss man freilich mit dem allerbreitesten Ideologiebegriff arbeiten. Nicht nur die Korrelation zwischen den Formen des Orientierungswissens und den Begriffen der Ideologie kann sich auf viele verschiedene Weisen realisieren, im Kontext des Orientierungswissens kann man auch jenes Moment nicht aus den Augen verlieren, das damit befasst ist, wie es um eine wirkliche soziale und intellektuelle Orientation bestellt ist. Diese Orientation muss konstante Eigenschaften aufweisen, falls man die intellektuelle Reproduktion auf das Orientierungswissen aufbauen will. Selbst die modernsten Wissenschaften können ihren Ort in diesem Orientierungswissen finden, während die einzelnen Momente der Orientation (das Bedürfnis, der Wille, und der Wert) der Orientation nicht unbedingt konstant bleiben. Die Aufwertung der Orientierungsfunktion wertet ungewollt auch die Elemente der sozialen Reproduktion auf; zum Beispiel, wie bewusst und wie entschlossen eine Gesellschaft dem Optimum ihrer Orientierungstätigkeit treu bleiben will, und ob und wie das System der Bedingungen des Orientierungswissens geändert werden kann.

1 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Zweite Auflage 1787, Berlin, DE: Georg Reimer Verlag 1911, S. 7, B vii.

2 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin, DE: Walter de Gruyter & Co, 1955. [Im Folgenden ausgewiesen als GSZ]

3 Albrecht Kiel, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung. Band I: Eine differenzierte Anthropologie nach den Menschenbildern der kulturellen Mentalitätsschichten, Berlin, DE: LIT Verlag 2022, S. 300. [Fortan als VOA zitiert]

4 Endre Kiss, "Entre le néo-positivisme-néo-libéralisme et le post-modernisme," TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14 (Dezember 2002), https://www.inst.at/trans/14Nr/kiss14.htm. Die typologische Dimension entspringt in dieser Arbeit aus dem Charakter dieses Versuchs, zwei umfassende Schulen mit typologischer Absicht zu vergleichen, die in den Augen der Zeitgenossen in grösster Ferne voneinander standen.