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Volume 18, No 1, Spring 2023                  ISSN 1932-1066

Marginale Mentalitätsschichten

Philosophisches zum Menschen und einer wissenschaftlichen Welt

Ernst Peter Fischer

Heidelberg University, Germany

epfischer@t-online.de

Kurzfassung: Dieser Aufsatz behandelt die Relevanz von Mentalitätsschichten als "Mischkomplex von Fantasie und Bewusstsein," wie Albrecht Kiel sie in seinen hier besprochenen Werken ausgearbeitet hat, sowie die Frage, welche Rolle die Aufklärung in der philosophischen Orientierung noch spielen kann. Hier wird die Ansicht vertreten, dass die Aufklärung zu Paradoxien geführt hat und die Welt durch die von ihr inspirierten Wissenschaft eher undurchsichtig und in ihrer Komplexität geheimnisvoller wird.

Schlüsselwörter: Magie; Komplementarität; Antinomien; Ordnung der Wirklichkeit; Netzwerke; Quantenphysik.

Abstract: This essay treats the relevance of layers of mentality as a "mixed complex of fantasy and consciousness," as Albrecht Kiel has elaborated in his works discussed here, and it is also about the question of what role the Enlightenment can still play in philosophical orientation. I advance the thesis that the Enlightenment has led to paradoxes and that the world has become rather opaque and more mysterious in its complexity due to the science it has inspired.

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In seinem Versuch, "Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung" zu erfassen, verwendet Albrecht Kiel den Begriff "Mentalitätsschicht." "Zur ersten archaischen Mentalitätsschicht des Menschen gehörten Magie und Animismus," wie der Autor schreibt, bevor man genauer erfährt, "Mentalitätsschichten sind...Mischkomplexe von Fantasie und Bewusstsein" und stellen "die fraglos geltenden weltanschaulichen Grundüberzeugungen eines Kollektivs" dar.1 Sie bestehen "stets aus einem komplexen Bündel von Ideen und Archetypen" (VOA1 255), wie es heißt und was die Möglichkeit offenlässt, dass mehr die Fantasie und die Ideen des Autors als die von historisch bekannten Menschengruppen geteilten Konzepte gemeint ist. In einer von Kiels Mentalitätsschichten findet man eine Fülle moderner Wissenschaft, mit deren Hilfe das Bevölkerungswachstum in Afrika mit einem Gravitationskollaps verglichen und eine Supernova erwartet wird. Der Autor hat zudem eine Vorliebe für Netzwerke, die er in sozialen, genetischen, politischen, kulturellen, kortikalen, professionellen, elektronischen, neuronalen, und anderen Formen ausfindig macht, was immer wieder nett klingt, ohne analytisch hilfreich zu sein.

Im Abschnitt II, "Geschichte als psychosoziale Evolution kultureller Mentalitätsschichten," erfährt man weitere Details zu diesem zentralen Begriff. Hier werden erst Erfahrungen des kollektiven Unbewussten in historischen Mentalitätsschichten gesichtet, die neben eine magische, polytheistische, und monotheistische Mentalitätsschicht

mit ihren typischen Konflikten und Konfessionskriegen" [gestellt wird]...Dann folgte dem in Mythen denkenden Menschen der auf seinen Verstand so stolze Aufklärer, der sich so erhaben über all jenen Aberglauben dünkte. [VOA1 258]

Und so

entsteht die "einsame Masse"...die in ihrer Trostlosigkeit zu den Gespenstern der Ahnen zurückkehrt und bei ihnen Trost und Geborgenheit sucht. Diese Mentalitätsschicht wurde im 20. Jahrhundert abgelöst durch die neuartige Tiefenpsychologie, welche die Dynamik von vorbewussten und bewussten Prozessen zu erfassen suchte; und zusätzlich durch die nachklassische Physik der Relativitäts- und Quantentheorie. [VOA1 259]

Ein Problem in dieser Aufzählung von Mentalitätsschichten steckt in dem einfach klingenden Wort "Magie" und dessen Vergleich mit der Quantenphysik und der Tiefenpsychologie auf Augenhöhe. Zum einen wurde schon länger festgestellt, dass die moderne Technologie dank jüngster Entwicklungen der Wissenschaft nicht mehr von Magie unterschieden werden kann. Zum Beispiel, als Steve Jobs 2007 das erste iPhone präsentierte und die Multi-Touch Funktion beschreibt, sagt er begeistert: "It works like magic."2 Und zum anderen besteht auch heutzutage der Eindruck, bei vielen die sich auch nur ein wenig auf die Quantenphysik einlassen, man hätte es bei ihren Deutungen mit Magie zu tun. Ein 2023 erschienenes Buch über die Physik der kondensierten Materie heißt deshalb gezielt The Magick of Matter, weil das Stoffliche durch Symmetriebrüche emergiert, wie man in aller Kürze sagen kann, um zu verstehen, worüber Naturforscher sich wundern.3 Diese Zweige der physikalischen Wissenschaft haben dank ihrer mathematisch formuliertem Theorien mit quantitativen Auskünften eine unvergleichlich höhere Sicherheit ihrer Erkenntnis erreicht als alle psychologischen Erklärungsversuche, die einem Kenner der Physik eher beliebig und austauchbar vorkommen und Moden unterliegen. Auf ihrem Weg in das Innerste der Welt ist den Physikern dann allerdings zur allgemeinen Überraschung aufgefallen, dass sie kein Mysterium der Welt lüften und im Gegenteil das Geheimnisvolle immer nur vertiefen. Wenn Magie eine Mentalitätsschicht war, dann liefert auch das Geheimnis der Dinge solch eine Ebene, bezüglich derer Albert Einstein die Ansicht vertreten hat, dass es für einen Menschen das Schönste ist, wer es erleben darf, wenn die eigenen Gefühle dieser Mentalitätsschicht auf die Schliche kommen und man sich in ihr einfindet.

Die Mentalitätsschichten sollten als Mysterium betrachtet und dadurch einer humanen Wirksamkeit zugeführt werden. Mit ihnen kann man immer wieder nach neuen Orientierungen Ausschau halten und Immanuel Kants Fragen beantworten: Was kann ich wissen? Dass ich mich orientieren muss. Was soll ich tun? In meinen Mentalitätsschichten nach entsprechender Hilfe suchen. Was darf ich hoffen? Dass ich sie bekommen kann und mein Mut mit ihr wächst.

Kant wollte mit diesen drei Fragen die eine zusammenfassen, Was ist der Mensch?—wobei er im Menschen ein antinomisches Wesen sah. In dem hier besprochenen Buch fasst Kiel die Antinomien in vier Sätzen zusammen, wobei der vierte etwas verkürzt worden ist:

  1. Die Welt ist endlich und zugleich unendlich.
  2. Die Welt ist teilbar und zugleich unteilbar.
  3. Die Welt ist kausal determiniert und zugleich gibt es eine Kausalität durch Freiheit.
  4. Alles in der Welt ist notwendig kontingent (zufällig und möglich) und zugleich gibt es notwendige Zusammenhänge.

Kiel hält die letzten beiden Antinomien unter bestimmten Voraussetzungen für wahr, was nicht weiterverfolgt wird. Er hält die ersten beiden Antinomien allerdings für falsch, weil—wie er meint—die Welt kein Erkenntnisgegenstand ist. Darauf soll jetzt eingegangen werden. Denn dazu ist anzumerken, dass Albert Einstein im Anschluss an seine Relativitätstheorie in § 31 "Die Möglichkeit einer endlichen und doch nicht begrenzten Welt" im Rahmen eines Gedankenexperiments zur Erkenntnis kam:

Die Welt dieser Wesen ist endlich und hat doch keine Grenzen.4

Man denke an einen Globus im Wohnzimmer, auf dessen Oberfläche man sich unbegrenzt bewegen kann. Und Materie ist teilbar und unteilbar zugleich, weil von einer bestimmten Größe—oder besser: Kleine—an so ungeheuer viel Energie für eine weitere Teilung aufzubringen ist, dass ein Teil davon materialisiert und die Bruchstücke größer werden, wenn sie durch die Zertrümmerung von atomarer Materie entstehen. Zudem sind etwa zwei Lichtteilchen (Photonen), die einmal in Wechselwirkung getreten sind, dadurch zwar unteilbar geworden—nämlich quantenmechanisch verschränkt—aber beim Sprechen reden Menschen immer noch von zwei Photonen und nicht von einem verschränkten Paar. Das Ganze ist das Wahre, und das Wahre ist das Duo, und das sind zwei Teilchen. Die Zwei ist die neue Eins. Das ist die Idee der Komplementarität. Aber sie findet sich auf einer anderen Mentalitätsschicht. Mit ihr könnte die Suche nach neuen Mentalitätsschichten eröffnet werden.

Da es in dem hier angesprochenen Buch um vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung geht, soll noch eine Anmerkung zu dem zentralen Begriff der Philosophiegeschichte gemacht werden. So wichtig die Aufklärung ist, nach Überzeugung des Rezensenten reicht ihr hochheiliges Instrument der Rationalität weder aus, um die moderne Wissenschaft zu verstehen, noch um ihren Einfluss auf den Alltag der Menschen zu erfassen. Es ist zwar oft davon die Rede, dass die heutige Gesellschaft eine zweite Aufklärung braucht, aber wer so argumentiert, übersieht, dass die erste Aufklärung zu einer Zeit entwickelt wurde, als es gerade einmal die Newtonsche Physik gab, und als Wissenschaftshistoriker kann man hinzufügen, dass Kant das dazugehörige Grundprinzip der Trägheit nicht verstanden hat. Mit erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass sich Karl Jaspers in der Physik seiner Zeit—sprich: der Quantenmechanik—zuverlässig auskannte, was sich aber nicht nur für diesen einen Philosophen, sondern auch für viele seiner Kollegen und weitere berühmte gelehrte Zeitgenossen sagen lässt, etwa dem Psychologen Carl Gustav Jung. Zudem kennt die Aufklärung keine gradlinige Fortschrittsgeschichte, und ihre Entwicklung hat zunächst die komplementäre Kultur der Romantik bewirkt, deren Mentalität Menschen die scherzhafte Redensart verdanken, "Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt." In der Epoche der Romantik wurde die unvorhersehbare Rolle der menschlichen Kreativität ernst genommen. Ihre Vertreter erwarteten keine eindeutigen Antworten, dafür immer neue Fragen zu tiefer werdenden Geheimnissen. Romantiker rechneten mit einer dualen Sicht der Dinge, die sich dann in Einsteins Welle-Teilchen-Dualismus konkret als Ergebnis einer exakten Wissenschaft zeigte, ohne beim Licht stehen zu bleiben. Elektronen müssen ebenso als polare Gebilde betrachtet werden, und überhaupt kann man in der modernen Atomphysik (Quantenmechanik) viele romantische Züge finden, nicht zuletzt in der philosophischen Deutung namens Komplementarität, die besagt, dass es zu jeder Ansicht eine komplementäre Einstellung geben muss, die der ersten oberflächlich widerspricht, während beide in der Tiefe zusammengehören, weil nur auf diese Weise und damit gemeinsam das Ganze zu verstehen ist, das bekanntlich das Wahre sein soll, wie schon einmal erwähnt worden ist und wie der Philosoph G. W. F. Hegel dies seinen Anhägern versichert hat. Die Idee der Komplementarität wird hier angesprochen, weil von ihr ziemlich vorne in dem umfangreichen Werk von Kiel die Rede ist, der seinerseits sich vorgenommen hat "Eine differenzierte Anthropologie nach den Menschenbildern der kulturellen Mentalitätsschichten" zu entwerfen.

Übrigens: Im ersten Satz des Buches kann man von einer "vernetzten Wissensgesellschaft" lesen, der eine "Aufklärung durch Orientierung" nottut, was grundsätzlich zu begrüßen, aber ungemein schwer durchzuführen ist. Kiel übersieht, dass der Teufel im Detail steckt, und danach hat der Verfasser dieser Zeilen beim weiteren Lesen vergeblich Ausschau gehalten. Die Lektüre erlaubt kein systematisches Vorwärtsschreiten, sie muss sich mit einer Fülle von Hin-und-Her auseinandersetzen, in der auch plötzlich "das physikalische Prinzip der Komplementarität" auftaucht, versehen mit der Einschränkung, dass es hier "für das Verhältnis von bloß vitalen, rationalen, geistigen und existenziellen Lebensproblemen" zuständig ist (VOA1 7). Diese Formulierung überfordert den Verfasser ebenso wie die Auskunft, "dass nur eine komplexe Personentheorie...die historischen Schwankungen hinsichtlich einer engeren oder weiteren Kollektivbindung adäquat erfassen kann" (VOA1 7). Wenn das stimmt, hätte man gerne davon gelesen, aber da kommt nichts nach.

Kiel betont es, wie wichtig die Suche "nach neuen Ordnungsprinzipien in einer rätselhaft gewordenen Wirklichkeit" (VOA1 7) ist—hier klingt das Geheimnisvolle von Einstein an—was Kiel veranlasst, über einen ursprünglich ohne Titel verfassten Text von Werner Heisenberg zu berichten, der 1942 niedergeschrieben worden ist, ohne damals veröffentlicht zu werden. Dies ist erst 1989 (!) geschehen, also lange nach Heisenbergs Tod, wobei das Manuskript zu dem Büchlein „Ordnung der Wirklichkeit“ nicht so gedacht war, wie Kiel schreibt, nämlich als Vorbereitung der geistigen Grundlagen für einen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Dritten Reich. Heisenbergs Bekenntnis in diesem Text war sehr persönlich gehalten,5 in dem die Trauer eines großen Physikers zum Ausdruck kommt, der als junger Mann erst im Innersten der Welt der Wahrheit gegenübertreten, dann dafür den Nobelpreis entgegennehmen konnte, um schließlich als Familienvater im Zweiten Weltkrieg Angst um sein Leben und das seiner Frau und Kinder haben musste. Dabei erkennt er zu seinem Entsetzen, wie seine Landsleute die deutsche Kultur zugrunde richten, die ihm so viel bedeutet. Wenn man von Heisenberg zurück zu Kiel will, kann man sagen, dass in der Ordnung der Wirklichkeit das verwirklicht wird, was als weitere Leitidee der Aufklärung verkündet wird, um die sich Kiel in meiner Einschätzung nicht zu kümmern scheint. Es gilt, "Geschichts- und Naturforschung" zu verbinden, was im einfachsten Fall heißt, die Geschichte der Naturwissenschaften zu erzählen. Zwar kann man im Laufe des Buches etwas über "Evolution und Fortschritt" lesen und verfolgen, wie Kiel "Auf dem Weg zum Homo sapiens: Neue Mentalitätsschichten" ausfindig macht. Aber dann erfährt man nur, dass die Welt kein Erkenntnisgegenstand mehr ist und dasselbe "für 'die' Materie, 'die' Energie" gilt (VOA1 347), ohne dass danach mehr darüber zu erfahren wäre. Kiel führt an, dass "statt eines abgeschlossenen aufgeklärten Weltbildes bleiben Fragen und immer neue Fragen" (VOA1 347), um gemäß meiner Einschätzung so zu demonstrieren, dass ihn die Naturwissenschaften als orientierungsmächtiger Beitrag zu einer zeitgenössischen Kultur nicht zu beschäftigen haben. Seine neuen Mentalitätsschichten konnte ich als Leser nicht erschließen, was mir als persönliches Bekenntnis zu schreiben gestattet sei.

Noch eine letzte Anmerkung: Jaspers ist bis in die Gegenwart hinein berühmt für seine Überlegungen zum Ursprung und Ziel der Geschichte, in denen er den Vorschlag macht, dass es in der Geistesgeschichte der Menschheit eine Achsenzeit gegeben habe.6 In relativ kurzer Zeit wirkten Konfuzius, Lao Tse, Buddha, und Zarathustra, traten die Propheten auf, dichtete Homer, lehrten Philosophen wie Aristoteles und Platon. Eine spannende Frage wäre die nach der dabei gebildeten Mentalitätsschicht und wie die übrige Welt daran teilhaben konnte. Kiel meint, die Beziehungen unter ihnen seien marginal gewesen und ohne dialektische Wechselbeziehungen geblieben (VOA1 270) und er verweist auf Jaspers' These,

es bestehe zumindest die Möglichkeit, dass sich die Kulturen Teile ihrer Wirklichkeiten wechselseitig aneignen und sich so teilweise verstehen können. [VOA1 271]

Doch sie haben das Menschsein verändert. Seitdem gilt, "man kann nicht nicht wissen wollen!" wie Robert Musil um 1930 geschrieben hat.7 An dieser Unvermeidlichkeit muss sich eine Gegenwart orientieren. Die Aufklärung kann nur den Anfang machen.

1 Albrecht Kiel, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung. Band I: Eine differenzierte Anthropologie nach den Menschenbildern der kulturellen Mentalitätsschichten; Band II: Friedensordnungen als Lebensformen, Berlin, DE: LIT Verlag 2022, S. 254-5. [Fortan als VOA1 oder 2 zitiert]

2 https://singjupost.com/wp-content/uploads/2014/07/Steve-Jobs-iPhone-2007-Presentation-Full-Transcript.pdf.

3 Felix Flicker, The Magick of Matter: Uncovering the Fantastical Phenomena in Everyday Life, New York, NY: Simon & Schuster, 2023.

4 Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Braunschweig, DE: Friedrich Vieweg und Sohn 1979, p. 86.

5 Ernst Peter Fischer, "Kommentare zu Werner Heisenberg, Ordnung der Wirklichkeit," in Werner Heisenberg, Ordnung der Wirklichkeit, Hrsg. Konrad Kleinknecht, Berlin, Heidelberg, DE: Springer Verlag 2019, S. 197-232.

6 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Basel, CH: Schwabe Verlag, 2017.

7 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg, DE: Rowohlt Verlag 1957, S. 221.