Interessante Bücher sind diejenigen Bücher, die mehr Fragen stellen und Probleme aufwerfen, als dass sie Antworten geben. Das Buch von Albrecht Kiel, Vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung, ist ein Beispiel eines solchen Buches, was auch erklärt, warum ich die folgende Buchbesprechung als Möglichkeit konzipiere, um fragenorientierte Bemerkungen zu machen, statt eine schematische Darstellung oder deskriptive Zusammenfassung des Buchinhaltes anzuführen. Bereits der umfangreiche Titel lässt aufhorchen.
Wer den Titel und das Inhaltsverzeichnis von Kiels Buch liest, bekommt sogleich einen Eindruck seiner Vielseitigkeit: Aufklärung, Anthropologie, Menschenbilder, Mentalitätsschichten, Friedensordnungen, und Lebensformen. Auf dem ersten Blick merkt man, dass Begriffe aus der Anthropologie, aus der Biologie, aus der Philosophie, aus der Kulturgeschichte und aus der Politik nebeneinanderstehen.
Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis macht Bezüge auf Biologie und Psychobiologie, Evolution und Anthropologie, Kulturgeschichte, Religionsgeschichte, Sozialpsychologie, sowie Themen aus den Bereichen der Sozialwissenschaften (Technologien, Migration, Metropolen, und Big Data), der Wirtschaft (Plutokratie, Autarkie, und Globalisierung), und der Politik (Sozialismus, Faschismus, Liberalismus, Weltstaat, Kosmopolitismus, und vieles andere mehr).
Dieser Eklektizismus in den Themen spiegelt sich auch in dem Bildungs- und Berufsprofil des Autors wider, der sowohl Richter, als auch Philosophiegelehrter und Philosophieforscher ist. Meine erste Reaktion auf dieses Buch war Neugierde, die sich aus der Schwierigkeit ergab, das Buch in einen klaren Klassifikationstypus einzuordnen. Das Gefühl spiegelte sich in den Fragen, die bei der Lektüre in mir enstanden und welche die literarische beziehungsweise begriffliche Natur des Buches adressieren: Was für ein Buch wollte Herr Kiel schreiben? Gerne spezifiziere ich diese erste Reaktion mit den folgenden zwei Nebenbemerkungen, die auch als Antwortversuche gelten.
(1) Bereits der Titel selbst suggeriert schon eine mögliche Antwort auf diese Frage, denn die verwendeten Begriffe gehören zur Tradition der Philosophie, nämlich Orientierungsaufgabe und Aufklärung. Hinzu kommt, dass dieses Buch in der Reihe "Philosophische Orientierungen" erscheint.
Als philosophischer Begriff setzt "Orientierung" eine philosophische Grundhaltung voraus, die nicht in einem allgemeinen Sinn zu verstehen ist. Der Begriff evoziert Immanuel Kants 1786 Schrift, "Was heißt: sich im Denken orientieren?" und weist damit auf eine wegbrechende philosophische Tradition oder Haltung hin, die auch von Kant vertreten wurde, nämlich die der Aufklärung, welche im Zentrum des Buches von Kiel steht. Zugleich verweist der Begriff "Orientierung" auch auf Karl Jaspers, dessen Vorlesungen der Student Kiel regelmässig besuchte und mit dessen Philosophie er sich jahrzehntelang systematisch auseinandersetzt. Der erste Band von Jaspers' dreibändigen Philosophie trägt bekanntermaßen den Titel "Philosophische Weltorientierung." In einem Nachwort zu diesem Band macht Jaspers ausführliche Kommentare mit solchen Untertiteln wie zum Beispiel, "Der Sinn dieses Buches," "Die Entstehung dieses Buches," "Die Absicht dieses Buches," oder "Wie das Buch gelesen werden möchte." In Anlehnung an Jaspers' Vorbild finde ich es sinnvoll, auch an den Autor Kiel die Frage zu richten, wie er sein Buch sieht und in welchen Fachbereich er das Buch einordnet. Die Frage erfolgt nicht nur aus einer fachbedingten Pedanterie, sondern soll auch zur Orientierung des Lesers beitragen hinsichtlich dessen, was vom Buch zu erwarten sei und—so wie auch Jaspers schreibt—wie das Buch gelesen werden möchte.
(2) Kiels Buch weist eine gut artikulierte Darstellung von Lebensfunktionen, kulturellen Mentalitätsschichten und geschichtlichen Lebensformen auf, die an eine Morphologie der Kulturformen erinnert. Eine der bekanntesten Arbeiten zu diesem Thema, die in der deutschen Tradition abgefasst wurden, ist Oswald Spenglers Buch, Der Untergang des Abendlandes. Dort wurde die Rekonstruktion der Kulturformen nach einer apokalyptischen Diagnose des Abendlandes, also der westlichen Kultur, funktionalisiert. Im Gegensatz zu Spengler verwendet Kiel keine Weltuntergangsstimmungen, und ist an einer Suche nach erneuerten Denkens- und Handlungshorizonten interessiert ist, die an die Suche nach Orientierungswissen im Sinne von Kant und Jaspers erinnert (welche sich als Denker von Spengler klar unterscheiden). Jedoch scheint die Frage nicht unbegründet, ob und inwiefern auch ein umstrittener Autor wie Spengler mit seiner geschichtlichen und kulturellen Morphologie eine Inspirationsquelle für Kiels Werke gewesen war. Diese Beobachtung ist durchaus vertretbar auf Grund des Eindrucks des Vorhandenseins eines Eklektizismus, der durch Kiels Buch insgesamt entsteht.
Kiels Buch thematisiert, wie der Titel es ankündigt, vier Orientierungsaufgaben der Aufklärung. Welche Aufgaben sind solche Orientierungsaufgaben? Eine erste, synthetische Darstellung der Orientierungsaufgaben wird im Vorwort des Buches aufgezeigt, wo Kiel vier verschiedene Stufen der Aufklärung aufweist (VOA 1-6). Wer eine Umformulierung mit eigenen Worten wagen möchte, könnte die folgenden vier Ansatzpunkte verwenden:
(a) Entsprechend der klassischen Darstellung der Wirkung der Aufklärung in der Geschichte kann Wissen beziehungsweise Erkenntnis in Sinne von Kenntnis der Welt (oder der Welten: Naturwelt, geschichtlichen Welt, sozialen Welt) und Erhellung der Wirklichkeit jenseits von Theorien, Dogmen, Mythen, und Ideologien verstanden werden.
(b) Eine weitere Komponente der Aufklärung beinhaltet Erziehung im Sinne von Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung, oder allgemein gesehen Befreiung von Mythen, Aberglauben, Ideologien, und Vorurteilen. Nicht zufällig wird in diesem Rahmen das Thema der verschiedenen Lern- und Forschungsmethoden behandelt (Methodologie der Logik, der Geistes- und Naturwissenschaften, der Philosophie, und andere mehr) und werden Bereiche erwähnt, die im Aufbau des Buches zum Gegenstand von Argumentation und Erklärung gemacht werden: hier erläutert Kiel die geschichtliche Dimension der Gesellschaft, der Vernunft, und der Identität.
(c) Kulturbildung in Sinne von Kulturaufbau. Kiel bezeichnet die kollektiven Dimensionen des Lebens als "kollektive Mentalitätsschichten." Ich frage mich in diesem Zusammenhang, ob die Bedeutung und die entsprechende Darstellung, die für Kultur entfaltet wurden, auch für die Erklärung und das Verständnis von Mentalitätsschichten gelten könnten. Etymologisch betrachtet kommt "Kultur" aus dem Bereich des Landbaus und bezeichnet die Pflege des Ackers und des Anbaus. Daraus wurde metaphorisch die geistige Bedeutung bald entlehnt, die den Sinn der Pflege in eine zweifache Richtung, wie zum Beispiel in der Darstellung von Claus-Michael Ort ersichtlich, folgendermassen erweitert wurde:
nicht nur die naturbezogenen Tätigkeiten des Menschen und deren landwirtschaftliche Ergebnissse (cultura agri), sondern auch die religiöse "Pflege" des Übernatürlichen (cultus deorum) und...die pädagogische, wissenschaftliche und künstlerische "Pflege" der individuellen und sozialen Voraussetzungen des menschlichen Lebens selbst.
Nach und nach wurde Kultur als Gegenbegriff zum Naturzustand und der Barbarei als Bezeichnung der gesellschaftlichen Ordnung, der staatlichen Einheit, und des verfeinerten Lebens in den Wortschatz der europäischen Sprachen integriert. Zur Zeit Göthes wurde Kultur immer mit dem Gedanken der Erziehung und Veredlung in Verbindung gebracht—nicht nur, oder nicht immer nur in Bezug auf das Individuum, sondern auch in Bezug auf das Kollektiv. Eine solche Bedeutung wird dann von Jakob Burckhardt betont und institutionalisiert, wenn er schreibt,
Kultur nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgestaltung in Anspruch nehmen...Ferner ist sie derjenige millionengestaltige Prozeß, durch welchen sich das naive und rassemäßige Tun in reflektiertes Können umwandelt, ja in ihrem letzen und höchsten Stadium, in der Wissenschaft und speziell in der Philosophie, in bloße Reflexion...Jedes ihrer Elemente hat so gut wie Staat und Religion sein Werden, Blühen, d.h. völliges Sichverwirklichen, Vergehen und Weiterleben in der allgemeinen Tradition.
Zu diesem Thema kommentiert Michael Pflaum folgendes:
Als im Jahre 1860 J. Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien erschien, war der geschichtswissenschaftliche Kulturbegriff geboren. Mit diesem Werk entstand der heute gebräuchliche zeit- und raumbezogene Kulturbegriff als Ausdruck eines einheitlichen vergangenen oder gegenwärtigen Geschichtskörpers. So drückt sich bei Burckhardt der spezifische Geist eines Volkes in seinen jeweiligen kulturellen Einrichtungen und Gebräuchen aus. Kultur wird zum seelischen Gesamtzustand einer Zeit und einer Nation...Bei Burckhardt ist Kultur das in Lebensformen, Wissenschaft, Sitte und Religion offenbar werdende Wesensbild einer Zeit...sie drückte ein klar umrissenes Bild materieller und geistiger Gegebenheiten zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aus.
Doch innerhalb des so verstandenen Kulturbegriffs entsteht eine Spannung, bedingt durch einer der Aufklärung innenwohnenden kritischen Stimmung, welche auf die Demaskierung von Mythen und Ideologien, die Hinterfragung von Dogmen, und die Enthüllung von Wahrheiten abzielt: nämlich die Auseinandersetzung zwischen Kultur und Kritik. Allerdings weisen zum Beispiel sowohl die anthropologische Forschung als auch Nietzsches Lehren darauf hin, dass Mythen und Überzeugungen zum Leben nützlich sein können: Jede soziale Gruppe, jede Gemeinschaft, alle Kollektive nähren sich von Glaubensinhalten, Ritualen, und Vorstellungen zur Weiterführung des Lebens, da diese eine Stabilisierungs- und Verbindungsfunktion bewirken und verbreiten. Gerade auf dieser Ebene bildet sich eine Spannung zwischen dem pars construens und pars destruens der Vernunft, zwischen der bildenden-konstruktiven Auswirkung der Kultur und der zersetzenden-dekonstruktiven Auswirkung der Kritik, die mittels der Aufklärung programmatisch betrieben wird.
Betrachtet man diese Entwicklung im Rahmen der zeitgenössischen europäischen Kultur, so kommen viele Fragen auf, deren Beantwortung wohl unterschiedlich ausfällt. Zum Beispiel ob die westliche europäische Gesellschaft eine Post-Aufklärungsgesellschaft ist oder eine ideologisierte Gesellschaft, oder ob eine Kultur der Kritik es schaffen kann, eine stabile Gesellschaft zu errichten und auszudifferenzieren. Meiner Einschätzung nach ist es wahrscheinlich, dass wir uns in einer Post-Aufklärungszeit befinden, jedoch vertrete ich auch die Einstellung, dass exzessive Kulturkritik eine eher zerstörende Funktion erfüllt.
Da sowohl Kultur als auch Kritik von Menschen ausgeübt und ausgeführt werden, fand ich es hilfreich, dass Kiel in seinem Buch eine Phänomenologie der menschlichen Typen und den entsprechenden psychosozialen Leistungen und Mentalitätsschichten erstellt hat. Er weist auf verschiedene Arten von homini hin: homo faber, creator, ludens, loquens, patiens, politicus, fingens, demens, und homo necans. Allerdings hat sich Kiel nicht dazu geäussert, ob in jeder dieser anthropologischen Phasen die Stufen einer progressiven Entwicklung, das heißt einer fortschrittsorientierten Evolution vom homo naturalis zum homo sapiens verzeichnet werden kann. Meines Erachtens sollte ein Projekt zur Bildung einer Morphologie der menschlichen Kultur Untersuchungen miteinschliessen, ob diese Evolutionsstufen eine Grundfunktion der Menschlichkeit sind, die bei gestuftem und kultiviertem Gleichgewicht doch auch in den späteren Lebensformen und Kulturen immer noch präsent und latent bleiben.
(d) Die Identifikation und Benennung der vierten Ebene der Aufklärung ist problematischer. Kiel spricht davon, dass es einer besonderen Kraft bedarf, um die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen:
Letztlich geht es dabei um jene höhere Vernunft, die religiösen und ideologischen Selbsttäuschungen zu überwinden abschließende Gottes-, Welt- und Menschenbilder zu propagieren. Dazu gehört die Kraft, sich mit den Antinomien unserer Lebenswirklichkeit...als Grenzen unserer Erkenntnis und der eigenen Unvollständigkeit—mit unserem Schatten—auseinanderzusetzen. [VOA 5]
Hier zeigt die Aufklärung eine innere Aufstiegsdynamik von der basalen zu der höheren Vernunft, von der ursprünglichen Befreiung von unterdrückerischen Theokratien bis hin zu einer neuen Metaphysik. Kiel schreibt programmatisch:
Ziel sollte eine neue Metaphysik sein, um den engstirnigen, auf die erkennbare Realität beschränkten Positivismus mit seinen ideologischen Bastarden...überwinden zu können. [VOA 5]
Hier ergeben sich für mich zwei wesentliche Fragen. Erstens, sollte nun das Stichwort für diese vierte Aufgabe der Aufklärung "Metaphysik" sein? Mit anderen Worten, versucht Kiel eine neue Metaphysik zu schaffen um gegen die zeitgemässen Mythen (der Technik, der Wissenschaften, der Ökonomie, und so weiter) und gegen moderne Ideologien labiler sozialer Ansammlungen (Rasse, Revolution der Arbeiterklasse, Weltmarkt, und andere mehr) eingesetzt werden? Abgesehen von der Wünschbarkeit eines solchen Unterfangens wäre dies jedoch teilweise merkwürdig, denn die Metaphysik als Dogmensystem war seit immer der grösste Feind der Aufklärung gewesen.
Kants immense Leistung lag unter anderen auch tatsächlich darin, bewiesen zu haben, dass Metaphysik keine Wissenschaft, und daher kein echtes Wissen ist, respektive sein kann, sondern vielmehr ein praktischer Bedarf der Vernunft, welche dann in diesem Sinne als Orientierungskraft wirken und gelten kann, respektive gelten soll. Doch auch in dieser Bedeutung besteht die Metaphysik aus Abstraktionen und universalen Kategorien ausgemacht (im Sinne Kants, die Seele, die Welt, Gott), wohingegen für Kiel die konkreten Aufgaben eines Orientierungswissens Abstraktionen ersetzen (VOA 8). Somit besteht eine präzisere Formulierung der ersten Frage darin, ob für Kiel die vierte Orientierungsaufgabe der Aufklärung im Sinne einer konkreten Metaphysik zu verstehen sei.
Nun zur zweiten Frage. Kiels Diskurs setzt eine Aufstiegslogik voraus, die auf ihrer vierten Stufe dazu führt, "die jeweils persönliche Ontogenese der Lebensgeschichte...und die kollektive Phylogenese der psychosozialen Evolution, welche die Menschheitsgeschichte prägte," einzuschliessen (VOA 5). Infolgedessen nimmt diese vierte Ebene des Aufklärungsverständnisses die Erreichung beziehungsweise Bildung von neuen, auf die höhere Vernunft gegründeten Lebensformen ins Visier, die in einem dreifachen Sinne integrative Kollektive sind:
(a) sie betreffen soziale Körper und Gruppen, das heißt die Kultur beziehungsweise Mentalitätsschichten, deren leitende Ideen und stiftende Werte eine kollektive Verbreitung und Auswirkung haben und die in Vernetzung miteinander oder zumindest in einem gegenseitigen Verhältnis zueinander sich herausbilden;
(b) sie besitzen die Züge der Komplementarität und der Ganzheitlichkeit, weil sie die Gesamtheit psychischer Phänomene und Funktionen erfassen, und zwar
von der vorbewussten Vitalität und den Arten des Bewusstseins, über die komplexen geistigen Funktionen bis zu den existenziellen Entscheidungen in den Grenzsituationen. [VOA 13]
Alle diese Funktionen werden als Wirklichkeitsebenen menschlichen Handelns betrachtet und ausdifferenziert und dieser Charakter, der die Ganzheit und die Artikulation der einzelnen Wirklichkeitsebenen zusammen vereinigt, entspricht dem, in Jaspers' Worten, "Erfassen einer Mannigfaltigkeit unter Ganzheitsideen." Wie Jaspers in der Einleitung zur Psychologie der Weltanschauungen pointiert:
Das Ganze ist für uns nur da durch die Fülle des Einzelnen. Nur das Einzelne ist erkannt im strengen wissenschaftlichen Sinne. Die Idee des Ganzen aber ist doch die Kraft der wissenschaftlichen Forschung und entwickelt die Möglichkeiten innerer Ordnung. [PdW 49]
(c) sie gründen und stützen sich auf die dynamische Integration von verschiedenem Wissen beziehungsweise Wissensformen und Wissenschaften (Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften).
Im Hinblick auf derartige Voraussetzungen zur vierten Ebene der Orientierungsaufgaben der Aufklärung, fragt es sich, ob man hier nicht eher von einer Theorie der Weltpolitik sprechen sollte, in der die angeführten Dimensionen konvergieren und die darauf abzielt, Friedensordnungen und friedliche Lebensordnungen zu errichten, welche aus der Vielfalt von Funktionen, Identitäten, überwundenen Spannungen, offen gebliebenen Antinomien, und zu Bewusstsein gebrachten menschlichen Unvollkommenheiten bestehen?
Die Beschäftigung mit dieser Fragestellung könnte auch die Gehalte im zweiten Band näher erläutern, in welchem Kiel das breite Spektrum von politischen Themen erfasst, die sich von Krieg und Friedenordnungen über Fluchtmigration, Plutokratien, und elektronischen Medien bis hin zur Errichtung eines Weltstaates und Kosmopolitismus erstreckt. In diesem Verständniszusammenhang würde dann auch die Verbindung des ersten mit dem zweiten Band des Buches eindeutiger, da auf dieser Weise der zweite Band eine Vertiefung und breitere Darstellung der vierten Orientierungsaufgabe der Aufklärung darstellen würde.
Abschliessend noch einige Bemerkungen zum Thema Orientierung. Kiels Orientierungsprinzip erinnert stark an dasjenige von Jaspers und ist damit auch stark mit der Tradition Kants verbunden, insofern als dass beide Philosophen Kants Unterscheidung zwischen den Objektswahrheiten und den Sinnwahrheiten aufnehmen, die von Jaspers in die Richtung einer Grenzziehung zwischen Wissenschaften und Philosophie uminterpretiert und spezifiziert worden ist. Die Unterscheidungen und die Grenzziehungen sind die notwendigen Voraussetzungen jedes Integrationsprojektes, das zugleich vernunftgemäss und wirksam sein will. Aufgrund dieser Sachlage weise ich auf drei Sachverhalte hin:
(1) Im Rahmen des Themas Orientierungsfähigkeit unterscheidet Kant zwischen Gegenständen der Erfahrung und Objekten der Anschauung einerseits und dem Raum für diese andererseits, in welchem der subjektive Akt des Urteilsvermögens stattfindet und sich entfalten kann. Auch physikalisch betrachtet, benötigt jedes Objekt, sowie jede Bewegung, einen leeren Raum, um sich auszudehnen, entfalten, und ausgeführt werden zu können.
Die implizite Grundthese von Kiels Gesamtwerk kann zusammenfassend wie folgt wiedergegeben werden: Heutzutage lebt man in einer desorientierten Zeit und daher sind Orientierungsprinzipien notwendig, welche den Menschen die Befähigung zur Orientierung in der Welt verleihen. Jedoch leben die Menschen der Industrieländer heutzutage in einer übervollen Welt; in einer Welt, die überfüllt ist mit Objekten, Waren, Informationen, Nachrichten, Tönen und Klängen, Meinungen, Worten, Bildern und Abbildern. Was heutzutage unter anderem fehlt ist ein unbesetzter Raum, der nicht als Leere zu betrachten wäre, sondern als ab-sentia: das wäre ein freigesetzter Raum, aus welchem Objekte, Meinungen, Dinge entfernt wurden und welcher durch Denken in autonomer Suche nach Orientierung eingenommen werden kann. Der Orientierungsbedarf entsteht aus der Fähigkeit menschlicher Vernunft, von ab-sentia (der Abwesenheit von Dingen und Objekten) zur es-sentia (dem Wesen der Dinge) überzugehen. Dieser gedankliche Prozess, den die Philosophie pflegt und betreibt, fördert die Wahrscheinlichkeit der Bildung von Sinnzusammenhängen zwischen Objekten und Situationen und den entsprechenden Sinnwahrheiten. Meines Erachtens entspricht dies der Botschaft und des Erbes der Philosophie von Jaspers.
Doch das Problem des Anfanges bleibt weiterhin bestehen. Wenn Philosophie selbst ein Teil der Welt und der Kultur einer Zeit und deren Mentalitätsschichten ist, ist sie in denselben Welthorizont einbezogen, der als Hintergrund jeder Suche von Orientierungsprinzipien immer besteht: Wie kann dann die Philosophie sich über die gegenständliche Welt erheben und die Bewegung vom ab-sentia zum es-sentia einleiten und führen? Jaspers beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf die Grossen Philosophen.
(2) Obwohl Jaspers sich ständig bemühte philosophisches Denken der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen, sehe ich ihn letztendlich als ein Beispiel der Geistesaristokratie der damaligen Zeit. Man muss der Philosophie keinen aristokratischen Charakter geben, um ihr Sinn und Sinngebungsfähigkeit zuschreiben zu können. Ein solches abgehobenes Selbstverständnis der Philosophie hat im Laufe der Geschichte zur Entfremdung der Philosophie von den Lebensproblemen der Menschen beigetragen, mit dem Ergebnis einer zunehmenden und geradezu schuldhaften Entfremdung der Philosophen und anderer Intellektuellen von den Sorgen der allgemeinen Bevölkerung. Dies hat die gegenwärtige Bedeutungslosigkeit und die gesellschaftliche Irrelevanz der Philosophie offensichtlich gefördert. Auch die Philosophie hat letzten Endes ihre dunklen Schatten (zum Beispiel das Schweigen der meisten Philosophen, wenn unter dem Vorwand einer Pandemie oder eines Krieges den Menschen deren Grundrechte entzogen oder verletzt werden).
(3) Kiel kämpft gegen philosophische Abstraktionen, die unbrauchbar sind, insofern sie die Konkretheit des menschlichen Lebens ignorieren. Er vertritt deshalb ein konkretes Orientierungswissen, das in der Lage ist, ein vernünftiges Selbstbewusstsein des Zeitalters wiederzugewinnen. Kiel führt diesbezüglich aus:
Ohne ein praktikables Orientierungswissen führen philosophische Abstraktionen eher zu Diskursen der Desorientierung...Aktuelle Beispiele für solche Pseudoorientierungen waren endlose Debatten über die "Postmoderne." [VOA 12]
In diesem Zusammenhang setzt sich Jaspers dank seiner Bildung und Erfahrung als Arzt und Psychologe beziehungsweise Psychiater zum Vorbild einer konkreten Philosophie durch, mittels seiner vom Leben geprägten Philosophie. Kiel beschreibt Jaspers auf folgende Weise:
Jaspers war nicht nur Kantianer und Schüler von Max Weber, er war vor allem ein psychiatrisch geschulter Systematiker. [VOA 10]
Interessant und auch umstritten ist eine solche Beschreibung von Jaspers, weil sie eine neue der traditionellen Jaspers-Lektüre nicht völlig angeglichene Sichtweise eröffnet. Diesbezüglich stimme ich mit Kiel überein, insofern es sich hier um ein offenes, mobiles, und integratives Verständnis der Philosophie handelt, welches Jaspers sein ganzes Leben aufrechterhielt, wenn er auf die Gefahren der Verabsolutierung von Ideen, der Schliessung und Geschlossenheit von Denkgebilden, der Katholizität, und der Erstarrung von Glauben, Weltanschauung, und Systemen in leere Gehäuse thematisierte und aufzeigte. Kiel fasst dies folgendermaßen zusammen:
Vor diesem Hintergrund wird die philosophische Orientierung leer (ohnmächtig) ohne die konkrete Erfassung von psychischen Strukturelementen und Funktionen; und die Psychotherapie wird blind (methodisch ziellos, beliebig und endlos) ohne ein formierendes philosophisches Orientierungswissen. [VOA 12]
Gerade in Anlehnung an Karl Jaspers betont Kiel die Notwendigkeit, dass die Philosophie die Verwurzelung in das Konkretheit der Lebenssituationen nicht verliert. Er schreibt:
Die Wahrheit ist für Mütter, die ein Kind zur Welt bringen, für Erzieher, die es lebenstauglich machen, und für Therapeuten, die es von Neurosen heilen sollen...immer konkret. [VOA 12]
Eine solche Denkperspektive kann nicht nur in der Rekonstruktion der kulturellen menschlichen Geschichte und für die Diagnose der Gegenwart nützlich und interessant sein, sondern sie ist auch für die philosophische Arbeit der Gegenwart und Zukunft fruchtbar. Hier wird eine Philosophie thematisiert, welche die Komplementarität mit anderen Wissensformen und Forschungsmethoden systematisch und programmatisch anstrebt, um nicht lediglich abstrakt und unrealistisch über die Welt zu philosophieren. Ihr Ziel ist es in den verschiedenen Forschungsbereichen und in den vielseitigen Sphären des menschlichen Handels ihre Kapazität zur Orientierung, die Dynamik von Analyse und Synthese, den Sinn der Unterscheidungen und der Grenzziehungen, ihre umgreifende Vernunft und ihre vielschichtige Logik zur Wirkung zu bringen und wirken zu lassen. So gedacht kann die Philosophie sowohl als integratives Wissen mit und für die anderen Wissensformen dienen als auch ein integrierender Teil des Gesamtwissens werden: Hier genügt es, an die bereits vollzogene Mitwirkung der Philosophen der Vergangenheit im Rahmen des psychologischen und psychotherapeutischen Wissens, der Neurowissenschaften, der Ökonomie, und der Technologie zu denken.
Im Einklang mit Kiels Untersuchung unterstütze ich die These, dass die Zukunft der Philosophie in der Fähigkeit bestehen kann, ein funktionales Wissen zu schaffen, und zwar ein Wissen, das auf der Basis von konkreten Lebenssituationen und Lebensthemen im Dienste integrativer Lebensordnungen sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene agiert.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich noch eine abschliessende Frage. Kiels Buch thematisiert die Orientierungsaufgaben der Aufklärung. Jedoch schreibt er im Vorwort:
Das Orientierungswissen einer Zeit zu sammeln ist Hauptaufgabe der Philosophie. [VOA 7]
Wie soll dann eine solche Feststellung interpretiert werden? Bedeutet es, dass der Titel des Buches eigentlich "Vier Orientierungsaufgaben der Philosophie" hätte sein sollen? Oder bedeutet es, dass die Aufklärung in Sinne von Kant und Jaspers als Hauptphilosophie gelten soll, nahezu ein Vorbild dessen, was eine echte Philosophie sein sollte? In dieser Perspektive erscheint Kiels Buch als eine durch vielseitige und eklektische Wissensmittel durchgeführte Übung zur ewigen Frage nach Sinn, Ursprung, und Ziel der Philosophie.